Allen Reformen zum Trotz: Die Lehrer-Schüler-Beziehung bleibt die
unhintergehbare Bedingung für gute Lebensperspektiven der Schüler.
Bildung braucht Beziehung, www.journal21.ch, 24.8. von Carl Bossard
Die Persönlichkeit des Lehrers beeinflusse das Sozialverhalten, die
Beziehung zur Lehrerin mache es aus, sagt eine umfangreiche
Cambridge-/ETHZ-Studie. Die Forscher zeigen sich überrascht. Weniger erstaunt
sind erfahrene Lehrpersonen.
Lehrer-Schüler-Verhältnis im wissenschaftlichen Fokus
Das pädagogische Leben spielt sich in den Beziehungen ab. Lernen ist
Beziehungshandeln, ist intersubjektives Geschehen. Wir erleben darum Schule und
Unterricht als wertvoll in Beziehungen – zum Lehrer, zur Lehrerin, zur Sache
und zu den Inhalten, zu Kolleginnen und Freunden. Das ist nicht neu. Und doch
muss man es immer wieder in Erinnerung rufen, weil der Tatbestand vergessen
geht. Strukturen und das Dogma des selbstorganisierten Lernens scheinen heute
vielerorts wichtiger zu sein als die Persönlichkeit der Lehrperson und die
Beziehungsebene.
Wie wirkt sich die Lehrer-Schüler-Beziehung auf das Sozialverhalten von
Kindern und Jugendlichen aus? Dieser Frage ging seit 2004 ein Forscherteam der
Cambridge University in England und der ETH Zürich nach. Die Langzeitstudie
„z-proso“ stützte sich auf Daten von über 1'400 Zürcher Kindern. Seit ihrem
Eintritt in die Primarschule wurden sie regelmässig befragt, ebenso ihre Eltern
und Lehrpersonen.
Beziehung als Gewaltprävention
Das soziale Verhalten war der alleinige Kontrollfokus dieser Studie.
Alle anderen Effekte blendete sie bewusst aus. Der Klassenwechsel beim
Übertritt in die vierte Primarstufe half. Die Forscher bildeten 600
Zweierteams. Vor dem Lehrer- und Klassenwechsel glichen sich die Kinder in
möglichst vielen der über hundert Parameter ihres persönlichen Profils. Nach
dem Stufenwechsel unterschieden sich die jeweiligen Tandempartner allein in
ihrem Verhältnis zur Lehrkraft.
Die Dauer des Experiments liess die Effekte einer guten beziehungsweise
schlechten Lehrer-Schüler-Beziehung auf das Sozialverhalten überprüfen. Die
Studie machte eines deutlich: Ein gutes Verhältnis zur Lehrperson reduziert die
Aggressivität wesentlich. Und es trägt mindestens ebenso stark zu einem positiven
Sozialverhalten bei wie die üblichen Präventionsprogramme, fügen die Forscher
hinzu. Positive Lehrerbeziehungen machen Schüler friedlich, könnte man etwas
salopp formulieren.
Der hohe Effektwert des „pädagogische Bezugs“
Die Erkenntnisse des international zusammengesetzten Forscherteams sind
wichtig; das ist unstrittig. Dass sie aber wissenschaftliches „Erstaunen“
auslösen, überrascht. Versierte Lehrerinnen, engagierte Lehrer legten schon
immer grossen Wert auf eine tragfähige Beziehung zu ihren Schülerinnen und
Schülern. Sie wussten: Am Wirkfaktor Lehrer-Schüler-Beziehung hängt bedeutend
mehr als „nur“ gutes Sozialverhalten. Damit verbunden sind das Klassenklima,
die Klassenführung, heute „Classroom-Management“, und die Lernprozesse
generell.
Die Beziehungsebene oder der „pädagogische Bezug“, wie man früher sagte,
spielt im Unterricht eine zentrale Rolle. Darum gilt es als unbestritten: Eine
Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens, der Fürsorge und des Wohlwollens ist
unverzichtbar für Bildung und schulische Leistung. Eine einfache pädagogische
Wahrheit.
Was zählt, ist der einzelne Lehrer und sein Unterricht
Auf die Lehrpersonen und die Qualität ihres Unterrichts kommt es an.
Diese simple Tatsache spielt in der öffentlichen Debatte heute kaum eine Rolle.
Vor lauter Reden und Reformen, vor grossräumigem Gezänk und Getöse um
Frühsprachen und Lehrplan 21 wird schnell vergessen, was die Kinder mehr prägt
als ein Kompetenzenportfolio oder altersdurchmischtes Lernen: die
Lehrerpersönlichkeit.
Auf diesen wichtigen Wirkzusammenhang weist der neuseeländische
Bildungswissenschaftlers John Hattie in seiner weltweit beachteten Studie
„Visible Learning“ (1) hin: Unterricht hängt entscheidend von dem Faktor ab,
den eine frühere Literatur die „Lehrerpersönlichkeit“ nannte. Die Political
Correctness verbietet den Ausdruck, und doch trifft er zu.
Lehrer-Schüler-Beziehung mit hoher Effektstärke
Lehrerinnen und Lehrer bringen ihre Persönlichkeit in den Unterricht ein
– und nicht einfach ihr Wissen oder, wie es heute heisst, ihre „professionelle
Kompetenz“. Und zu dieser Persönlichkeit bauen Kinder eine vertrauensvolle
Beziehung auf. Vertrauenswürdig und glaubwürdig muss darum der Lehrer sein. Das
ist das Fundament jeder Schüler-Lehrer-Beziehung. Sie stimuliert das Lernen und
erzielt nach Hattie einen der höchsten Effektwerte.
Unterricht hat per se eine dialogische Struktur; Lernende und Lehrende
begegnen sich im Schulstoff. Der Unterricht wird so zum sozialen Austausch
zwischen Personen, zum „meeting of minds“, wie es der amerikanische Philosoph
John Dewey nannte. Darum kommt es nicht einfach auf den einzelnen Lehrer an,
sondern auf den Umgang zwischen ihm und seiner Klasse. Gutes, unterstützendes
Klassenklima bewirkt viel – genauso wie die humane Energie des Lehrers für
seinen Beruf.
Unterricht als Miteinander – in guter Atmosphäre
John Hattie fordert in seiner Mammut-Studie normativ ein, was er
empirisch nachweisen kann. Das ist der Grund, warum er so viel Wert auf die
„schülerzentrierte" Lehrerin, den „leidenschaftlichen“ Lehrer legt. Für
eine solche Lehrperson werden die Lernenden zum Ausgangspunkt des Lehrens.
Entscheidend ist für sie der Erfolg ihrer Kinder. Bei ihr dominiert die
Einsicht, dass Unterricht ein Miteinander ist. Beide Seiten sind aufeinander
angewiesen.
Basis dieses Miteinanders ist eine gute und vertrauensvolle Beziehung
zwischen der Lehrperson und ihren Schülerinnen und Schülern. Sie ist nicht nur
effektive Gewaltprävention, wie die Cambridge-/ETH-Studie belegt, sondern eine
Conditio sine qua non wirksamen und nachhaltigen Lernens. Das bestätigt jede
Bildungsbiographie. Der grosse Philosoph Sir Karl R. Popper widmet die Memoiren
nicht umsonst seiner Lehrerin Emma Goldberger. Ihrem Unterricht und der
Beziehung zu ihr verdanke er sein ganzes Denken und damit eigentlich alles,
schreibt er. Bildung braucht (auch) Beziehung.
Hattie John (2009), Visible Learning. London, New York: Routledge. /
Hattie John/Beywl Wolfgang & Zierer Klaus (2013), Lernen sichtbar machen.
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
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