28. August 2016

Hausaufgaben für die Eltern

Eine Mutter sitzt fast jeden Tag eine Stunde mit ihrem Kind, einem Primarschüler, über den Hausaufgaben. Eine andere erzählt, ihr Sohn habe in der dritten Klasse einen Vortrag über das Pferd vorbereiten müssen, Redezeit: zwanzig Minuten. Sie liess ihn machen. ­Irgendwann fragte sie nach. Abgesehen von ­einem komplizierten Wikipedia-Text über ­Urpferde hatte er nichts. Sie sprach mit anderen Müttern: «Weisch, wir machen einen Wettbewerb», bekam sie zu hören, und: «Ich habe ein Buch gekauft», «Ich habe ein Video gedreht». Da griff sie ebenfalls ein und filmte ­ihren Sohn beim Reiten.
Papas toller Vortrag, Weltwoche 34/2016 von Daniela Niederberger


Müssen Eltern bei den Hausaufgaben ­helfen? Sollen sie? Oder eben gerade nicht? Jedenfalls tun sie es. Über neunzig Prozent der Primarschüler im deutschsprachigen Raum erledigen die Aufgaben mit Hilfe der Eltern. Für den Online-Kurs «Mit Kindern lernen» haben sich schon 25 000 Schweizer Eltern ein­ge­schrieben. Hält der Psychologe Fabian Grolimund, der den Kurs mitentwickelt hat, an ­einer Schule einen Vortrag zum Thema, ist der Saal voll.

Eigentlich wäre die Sache klar: Kinder sollten die Hausaufgaben alleine machen kön­nen. «Nur so können die Lehrer kontrollieren, ob die Schüler den Stoff verstanden haben», sagt Grolimund, der als Lern-Coach Familien be­­­­­­­­­­­rät, bei denen die Aufgaben für Streit und ­Ärger sorgen.

«Für die Schule hat Mami viel Zeit»
Warum helfen dann praktisch alle? «Eltern wollen, dass die Hausaufgaben gut erledigt werden», erklärt Grolimund. Merken sie, dass das Kind nicht bei der Sache ist, greifen sie ein. «In Zürich sehe ich einen enormen Zugzwang bei den Eltern, sich einzubringen. Wenn viele Eltern ihren Kindern helfen, wird es zu einem Nachteil, wenn man es nicht tut.» «Es gibt sehr engagierte Eltern, die dem Kind den Thek leeren, kaum ist es daheim», sagt Matthias ­Obrist vom Schulpsychologischen Dienst in Horgen. «Und die in Stress geraten, wenn es die Aufgaben nicht richtig löst.»

Müssen Primarschüler einen Vortrag vorbereiten, helfe vielleicht die Hälfte der Eltern, schätzt Grolimund. Dementsprechend kommt das Endprodukt daher. Ein Winterthurer Schulleiter erzählt von Primarschülern, die Vorträge mit Powerpoint-Präsentationen hielten. Toll gemacht, doch unübersehbar von ­Papa. Als Folge davon werden beim nächsten Vortrag noch mehr Eltern eingreifen. Grolimund: «Ein Vater, der Lehrer ist, sagte mir: ‹Ich möchte nicht helfen, aber ich kann doch nicht der Einzige sein, der sein Kind bei der Vorbereitung des Vortrags nicht unterstützt.›»

«Viele Eltern haben das Gefühl, sie würden dem Kind helfen, wenn sie helfen. Sie übernehmen die Verantwortung für den Schüler. Sie glauben, sie müssten die Aufgaben gesehen haben, bevor das Kind diese abgibt», sagt der Schulleiter. «Es bringt doch nichts, wenn man dem Lehrer etwas vorspielt. Dabei verlieren alle.»

Eltern erweisen ihren Sprösslingen damit einen Bärendienst. Eine Studie des Max-­Planck-Instituts für Bildungsforschung von 2001 zeigte: Wenn Eltern oder andere ­Verwandte die Hausaufgaben beaufsichtigen, hat das einen nachteiligen Effekt. Kinder von Eltern, die regelmässig Hilfestellung leisten, zeigen schwächere Schulleistungen.

Die häufigste Klage der Eltern lautet, das Kind beginne einfach nicht mit Lernen. Wenn man nicht danebensitze, gehe gar nichts. Und wie lange das dauere! «Es gibt Dritt- und Viertklässler, die sitzen zwei, drei Stunden an den Aufgaben. Aber nicht, weil es so viele sind, ­sondern, weil sie so unstrukturiert daran­gehen und sich leicht ablenken lassen», sagt Grolimund.

Es gibt eben vieles, was auch interessant ­wäre: Man könnte gamen oder checken, ob ­eine Nachricht aufs Handy gekommen ist. Grolimund sagt: «Meine Mutter machte als Kind gern Hausaufgaben. Das war der Moment, wo sie nicht im Haushalt helfen musste.»
Wenn es nur klappt, wenn die Mama oder der Papa danebensitzt, dann seien meist nicht die Aufgaben das Problem, hat Grolimund festgestellt. «Das Kind möchte Aufmerksamkeit und geniesst die Zeit mit den Eltern. Eine Neunjährige sagte mir mal in meiner Praxis: ‹Für mich hat meine Mami nicht so viel Zeit. Aber für die Schule schon.›»

Oftmals ist auch die Schule schuld, wenn die Aufgaben Mühe bereiten. Früher war es so: ­
Ufzgi von Dienstag auf Mittwoch, fünf Stöckli rechnen. Heute haben viele Schüler Wochenpläne: Englisch bis dann, das individuelle Projekt XY bis dann. Grolimund sagt: «Die Lehrpersonen machen die Aufgaben komplexer. Sie sollen interessant und an­regend sein. Das überfordert viele Kinder.» Matthias Obrist: «Dem Kind sollte klar sein, was es bis wann erledigen muss. Und die Aufgaben sollten von der Lehrperson auch wirklich angeschaut und nicht bloss halbbatzig korrigiert werden. So entstehen Verbindlichkeit und Klarheit.»

Es gibt so eine allgemeine Vorstellung, dass Aufgaben Spass machen sollen. Viele Eltern ­lassen sich auf Diskussionen ein. Das sollten sie nicht, sagt Grolimund: «Es macht auch nicht ­jedes Mal Freude, wenn ich den Abwasch ­machen muss. Das Kind sollte auch das Recht darauf ­haben, dass ihm die Aufgaben stinken. Die ­Eltern sollten trotzdem darauf beharren, dass ­­­­­­­­es sie macht.»

Fehler aushalten
Was ist zu tun? Was ist vernünftig? «Die ­Schule sagt zwar, das Kind müsse in der Lage sein, die Aufgaben allein zu machen. Bei ­vielen Kindern ist das Theorie. Sie brauchen Begleitung», sagt der Schulpsychologe Obrist - aber sinnvolle. «Man sollte nicht zu nahe und nicht zu weit weg sein.» Aufgaben helfen bei der Erziehung zur Selbständigkeit. «Aber das fällt vielen Kindern am Anfang nicht leicht. Manchmal brauchen sie einen kleinen Schupf.»

Ungünstig ist es, sich mit dem Kind an den Tisch zu setzen. Und dauernd zu überprüfen, ob alles richtig ist. Viele Kinder haben aber Mühe, allein im Kinderzimmer zu arbeiten. «Ich würde das Kind einladen, sich zu mir ans Pult zu setzen», rät Grolimund. «Man könnte sagen: ‹Ich muss meine E-Mails anschauen – möchtest du neben mir deine Aufgaben ­machen?» Grolimunds Vater war Lehrer. «Wenn er im Schulzimmer Hefte korrigierte, konnte ich an einem Schülerpult meine Auf­gaben machen. Es herrschte eine Arbeitsatmosphäre. Ich genoss das gemeinsame Arbeiten, und es war klar, dass ich nicht ständig fragen konnte.» Weniger ratsam sei es, zu glätten, während das Kind an den Aufgaben sitze. Denn da kann man gleichzeitig reden.

Eltern sollten nicht alles korrigieren, sondern es aushalten können, dass die Aufgaben auch mal falsch zurückgehen. «Lernen ist ein Prozess. Es darf Fehler geben. Nur so merkt ein Lehrer, dass er noch mehr erklären muss», sagt der Schulleiter.

Man könnte der Lehrerin eine Notiz schreiben, zum Beispiel: «Mein Kind hat es nicht verstanden.» Das ist klüger, als selber Lehrerin zu spielen. Wie es dann tönt, das kennen die meisten Eltern: «Du erklärst das falsch! Die Lehrerin hat das ganz anders erklärt. Du kommst nicht draus! Die Lehrerin ist viel gescheiter als du!» Aufgaben, sagt Schulpsychologe Obrist, seien nicht wichtig genug, dass es deswegen tägliche Machtkämpfe gebe.

Auch sollten sie nicht zu viel Zeit in ­Anspruch nehmen. Als Faustregel gilt für die Primarschule: zehn Minuten pro Schuljahr. Ein Viertklässler brauchte demnach vierzig Minuten. Wobei die Unterschiede gross sein können: Die Schnellste ist vielleicht in einer Viertelstunde fertig, der Schwächste braucht zwei Stunden. Der Winterthurer Schulleiter plädiert dafür, dass die Lehrer den Schülern vorgeben, wie lange sie an den Aufgaben ­sitzen sollen. Nachher sollen sie aufhören, egal, ob sie fertig sind oder nicht.

Doch sind Hausaufgaben überhaupt nötig? Der Kinderarzt Remo Largo findet: nein. «Sie bringen nichts. Als Begründung wird angeführt, die Kinder würden zu Hause lernen, selbständig zu arbeiten. Was bedeutet: Die Kinder dürfen in der Schule nicht selbständig arbeiten. Kommt hinzu: Auswendiglernen ist nicht nachhaltig. Nachhaltig sind nur kon­krete Erfahrungen.»

Aufgaben könnten sogar schaden, sagt Grolimund, wenn sie zu täglichen Dramen führen. «Das macht die Lernlust kaputt.» Wenn die Kinder, kaum daheim, grad wieder Schule haben («Fang endlich an! Das ist doch nicht so schwierig!»), dann sei das schädlich.
Doch wehe, ein Lehrer erwägt, keine Auf­gaben mehr zu geben. Dann treten sofort jene Eltern auf den Plan, die Angst haben, ihr Kind verpasse den Anschluss. «Die besorgen sich gleich selber Lernmaterial», sagt Grolimund.


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