Eine Mutter sitzt fast jeden Tag eine Stunde mit ihrem Kind,
einem Primarschüler, über den Hausaufgaben. Eine andere erzählt, ihr Sohn habe
in der dritten Klasse einen Vortrag über das Pferd vorbereiten müssen,
Redezeit: zwanzig Minuten. Sie liess ihn machen. Irgendwann fragte sie nach.
Abgesehen von einem komplizierten Wikipedia-Text über Urpferde hatte er
nichts. Sie sprach mit anderen Müttern: «Weisch, wir machen einen Wettbewerb», bekam sie zu hören, und:
«Ich habe ein Buch gekauft», «Ich habe ein Video gedreht». Da griff sie ebenfalls ein und filmte ihren Sohn beim Reiten.
Papas toller Vortrag, Weltwoche 34/2016 von Daniela Niederberger
Müssen Eltern bei den Hausaufgaben helfen? Sollen sie? Oder eben gerade
nicht? Jedenfalls tun sie es. Über neunzig Prozent der Primarschüler im
deutschsprachigen Raum erledigen die Aufgaben mit Hilfe der Eltern. Für den
Online-Kurs «Mit Kindern lernen» haben sich schon 25 000 Schweizer Eltern eingeschrieben.
Hält der Psychologe Fabian Grolimund, der den Kurs mitentwickelt hat, an einer
Schule einen Vortrag zum Thema, ist der Saal voll.
Eigentlich wäre die Sache klar: Kinder sollten die Hausaufgaben alleine
machen können. «Nur so können die Lehrer kontrollieren, ob die Schüler den
Stoff verstanden haben», sagt Grolimund, der als Lern-Coach Familien berät,
bei denen die Aufgaben für Streit und Ärger sorgen.
«Für die Schule
hat Mami viel Zeit»
Warum helfen dann praktisch alle? «Eltern wollen, dass die Hausaufgaben
gut erledigt werden», erklärt Grolimund. Merken sie, dass das Kind nicht bei
der Sache ist, greifen sie ein. «In Zürich sehe ich einen enormen Zugzwang bei
den Eltern, sich einzubringen. Wenn viele Eltern ihren Kindern helfen, wird es
zu einem Nachteil, wenn man es nicht tut.» «Es gibt sehr engagierte Eltern, die
dem Kind den Thek leeren, kaum ist es daheim», sagt Matthias Obrist vom
Schulpsychologischen Dienst in Horgen. «Und die in Stress geraten, wenn es die
Aufgaben nicht richtig löst.»
Müssen Primarschüler einen Vortrag vorbereiten, helfe vielleicht die
Hälfte der Eltern, schätzt Grolimund. Dementsprechend kommt das Endprodukt
daher. Ein Winterthurer Schulleiter erzählt von Primarschülern, die Vorträge
mit Powerpoint-Präsentationen hielten. Toll gemacht, doch unübersehbar von Papa.
Als Folge davon werden beim nächsten Vortrag noch mehr Eltern eingreifen.
Grolimund: «Ein Vater, der Lehrer ist, sagte mir: ‹Ich möchte nicht helfen,
aber ich kann doch nicht der Einzige sein, der sein Kind bei der Vorbereitung
des Vortrags nicht unterstützt.›»
«Viele Eltern haben das Gefühl, sie würden dem Kind helfen, wenn sie
helfen. Sie übernehmen die Verantwortung für den Schüler. Sie glauben, sie
müssten die Aufgaben gesehen haben, bevor das Kind diese abgibt», sagt der
Schulleiter. «Es bringt doch nichts, wenn man dem Lehrer etwas vorspielt. Dabei
verlieren alle.»
Eltern erweisen ihren Sprösslingen damit einen Bärendienst. Eine Studie
des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung von 2001 zeigte: Wenn Eltern
oder andere Verwandte die Hausaufgaben beaufsichtigen, hat das einen
nachteiligen Effekt. Kinder von Eltern, die regelmässig Hilfestellung leisten,
zeigen schwächere Schulleistungen.
Die häufigste Klage der Eltern lautet, das Kind beginne einfach nicht
mit Lernen. Wenn man nicht danebensitze, gehe gar nichts. Und wie lange das
dauere! «Es gibt Dritt- und Viertklässler, die sitzen zwei, drei Stunden an den
Aufgaben. Aber nicht, weil es so viele sind, sondern, weil sie so
unstrukturiert darangehen und sich leicht ablenken lassen», sagt Grolimund.
Es gibt eben vieles, was auch interessant wäre: Man könnte gamen oder
checken, ob eine Nachricht aufs Handy gekommen ist. Grolimund sagt: «Meine
Mutter machte als Kind gern Hausaufgaben. Das war der Moment, wo sie nicht im
Haushalt helfen musste.»
Wenn es nur klappt, wenn die Mama oder der Papa danebensitzt, dann seien
meist nicht die Aufgaben das Problem, hat Grolimund festgestellt. «Das Kind
möchte Aufmerksamkeit und geniesst die Zeit mit den Eltern. Eine Neunjährige
sagte mir mal in meiner Praxis: ‹Für mich hat meine Mami nicht so viel Zeit.
Aber für die Schule schon.›»
Oftmals ist auch die Schule schuld, wenn die Aufgaben Mühe bereiten.
Früher war es so:
Ufzgi von Dienstag auf Mittwoch, fünf Stöckli rechnen.
Heute haben viele Schüler Wochenpläne: Englisch bis dann, das individuelle
Projekt XY bis dann. Grolimund sagt: «Die Lehrpersonen machen die Aufgaben
komplexer. Sie sollen interessant und anregend sein. Das überfordert viele
Kinder.» Matthias Obrist: «Dem Kind sollte klar sein, was es bis wann erledigen
muss. Und die Aufgaben sollten von der Lehrperson auch wirklich angeschaut und
nicht bloss halbbatzig korrigiert werden. So entstehen Verbindlichkeit und
Klarheit.»
Es gibt so eine allgemeine Vorstellung, dass Aufgaben Spass machen
sollen. Viele Eltern lassen sich auf Diskussionen ein. Das sollten sie nicht,
sagt Grolimund: «Es macht auch nicht jedes Mal Freude, wenn ich den Abwasch machen
muss. Das Kind sollte auch das Recht darauf haben, dass ihm die Aufgaben
stinken. Die Eltern sollten trotzdem darauf beharren, dass
es sie macht.»
Fehler aushalten
Was ist zu tun? Was ist vernünftig? «Die Schule sagt zwar, das Kind
müsse in der Lage sein, die Aufgaben allein zu machen. Bei vielen Kindern ist
das Theorie. Sie brauchen Begleitung», sagt der Schulpsychologe Obrist - aber
sinnvolle. «Man sollte nicht zu nahe und nicht zu weit weg sein.» Aufgaben
helfen bei der Erziehung zur Selbständigkeit. «Aber das fällt vielen Kindern am
Anfang nicht leicht. Manchmal brauchen sie einen kleinen Schupf.»
Ungünstig ist es, sich mit dem Kind an den Tisch zu setzen. Und dauernd
zu überprüfen, ob alles richtig ist. Viele Kinder haben aber Mühe, allein im
Kinderzimmer zu arbeiten. «Ich würde das Kind einladen, sich zu mir ans Pult zu
setzen», rät Grolimund. «Man könnte sagen: ‹Ich muss meine E-Mails anschauen –
möchtest du neben mir deine Aufgaben machen?» Grolimunds Vater war Lehrer.
«Wenn er im Schulzimmer Hefte korrigierte, konnte ich an einem Schülerpult
meine Aufgaben machen. Es herrschte eine Arbeitsatmosphäre. Ich genoss das
gemeinsame Arbeiten, und es war klar, dass ich nicht ständig fragen konnte.»
Weniger ratsam sei es, zu glätten, während das Kind an den Aufgaben sitze. Denn
da kann man gleichzeitig reden.
Eltern sollten nicht alles korrigieren, sondern es aushalten können,
dass die Aufgaben auch mal falsch zurückgehen. «Lernen ist ein Prozess. Es darf
Fehler geben. Nur so merkt ein Lehrer, dass er noch mehr erklären muss», sagt
der Schulleiter.
Man könnte der Lehrerin eine Notiz schreiben, zum Beispiel: «Mein Kind
hat es nicht verstanden.» Das ist klüger, als selber Lehrerin zu spielen. Wie
es dann tönt, das kennen die meisten Eltern: «Du erklärst das falsch! Die
Lehrerin hat das ganz anders erklärt. Du kommst nicht draus! Die Lehrerin ist
viel gescheiter als du!» Aufgaben, sagt Schulpsychologe Obrist, seien nicht
wichtig genug, dass es deswegen tägliche Machtkämpfe gebe.
Auch sollten sie nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Als Faustregel
gilt für die Primarschule: zehn Minuten pro Schuljahr. Ein Viertklässler
brauchte demnach vierzig Minuten. Wobei die Unterschiede gross sein können: Die
Schnellste ist vielleicht in einer Viertelstunde fertig, der Schwächste braucht
zwei Stunden. Der Winterthurer Schulleiter plädiert dafür, dass die Lehrer den
Schülern vorgeben, wie lange sie an den Aufgaben sitzen sollen. Nachher sollen
sie aufhören, egal, ob sie fertig sind oder nicht.
Doch sind Hausaufgaben überhaupt nötig? Der Kinderarzt Remo Largo
findet: nein. «Sie bringen nichts. Als Begründung wird angeführt, die Kinder
würden zu Hause lernen, selbständig zu arbeiten. Was bedeutet: Die Kinder
dürfen in der Schule nicht selbständig arbeiten. Kommt hinzu: Auswendiglernen
ist nicht nachhaltig. Nachhaltig sind nur konkrete Erfahrungen.»
Aufgaben könnten sogar schaden, sagt Grolimund, wenn sie zu täglichen
Dramen führen. «Das macht die Lernlust kaputt.» Wenn die Kinder, kaum daheim,
grad wieder Schule haben («Fang endlich an! Das ist doch nicht so schwierig!»),
dann sei das schädlich.
Doch wehe, ein Lehrer erwägt, keine Aufgaben mehr zu geben. Dann treten
sofort jene Eltern auf den Plan, die Angst haben, ihr Kind verpasse den
Anschluss. «Die besorgen sich gleich selber Lernmaterial», sagt Grolimund.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen