Zu viel Zoff zu Hause: Schulleiter wollen Hausaufgaben abschaffen, Schweiz am Sonntag, 28.8. von Yannick Nock
Lisa Lehner hat Generationen von Schulkindern und
eine Menge Reformen erlebt. Zuerst unterrichtete sie 15 Jahre an Primar- und
Realschulen, danach wurde sie Schulleiterin in Baden, wo sie seit 14 Jahren
tätig ist. Trotzdem gibt es immer wieder Entwicklungen, die auch sie
überraschen. Eine ist der wachsende Konflikt zwischen Eltern und ihrem
Nachwuchs.
«Mich
rufen heute häufiger verzweifelte Mütter und Väter an, weil sie mit ihren
Kindern aneinandergeraten», sagt Lehner. Fast immer geht es um das gleiche
Thema – die Hausaufgaben. Eltern könnten heute nicht immer Zeit aufwenden, den
Stoff mit ihren Sprösslingen durchzugehen, mit dem Ergebnis, dass sich beide
zoffen. Für Lehner ist deshalb klar: «Wir sollten die klassischen Hausaufgaben
abschaffen.»
Entwicklung gefährdet
Lehners
Stimme hat Gewicht. Sie verfügt nicht nur über viel Erfahrung, sondern ist auch
Vizepräsidentin des Deutschschweizer Schulleiterverbands. Die Unterstützung
ihrer Kollegen ist ihr sicher. Auch Bernard Gertsch, Präsident des Verbands,
sieht Handlungsbedarf. Beide wollen die Idee nun aufs Tapet bringen. Dabei geht
es nicht nur um die Spannungen im Elternhaus, Gertsch sieht die
Chancengleichheit gefährdet. Primarschüler, deren Eltern arbeiten oder aus
bildungsfernen Schichten stammen, könnten sich zu Hause an niemanden wenden.
«Das gefährdet die Entwicklung der Schüler und lässt die Lücke zu den
Klassenbesten noch grösser werden.»
Die
Debatte um die Hausaufgaben erhält durch den Schulleiterverband Aufwind, neu
ist sie allerdings nicht. Der renommierte Kinderarzt Remo Largo sagte bereits
2012, auf die Hausaufgaben angesprochen: «Abschaffen! Die Verantwortung liegt
bei der Schule, nicht bei der Familie.» Auch für Gabriel Romano, Dozent der
Erziehungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Bern, haben
Hausaufgaben meistens nur einen geringen Lerneffekt. Oft handle es sich um
Stoff, der aus Zeitmangel nicht mehr durchgenommen werden könne. Zuhause seien
die Schüler dann sich selber überlassen, kritisiert er. Nötig sei das nicht:
«Die Schüler lernen tagsüber genug.»
Zu
viel Schulstoff ist auch für Schulleiter-Präsident Gertsch ein Problem. Statt
eines einzigen Klassenlehrers haben Kinder heute Fachlehrer für jeden Bereich,
die sich nicht immer absprechen. «Unter Umständen werden den Kindern dann zu
viele Aufgaben zugemutet», sagt Gertsch.
Vorwurf der Kuschelpädagogik
Bisher
sind alle Anstrengungen die Hausaufgaben abzuschaffen, gescheitert. Nur einmal
gelang der Versuch. 1993 strich der Kanton Schwyz jegliche Hausaufgaben,
allerdings hob die Regierung diesen Entscheid nur vier Jahre später wieder auf.
Eltern, Politiker, aber auch Lehrer hatten sich heftig dagegen gewehrt. Eine
Schule ohne Hausaufgaben sei zu weich, sie verkäme zur Kuschelpädagogik, hiess
es. Die SP scheiterte 2009 in der Stadt Zürich mit dem gleichen Anliegen. Das
Argument der Chancengleichheit war nicht stark genug. Vielmehr schätzen Eltern
und Politiker, wenn Kindern Selbstständigkeit beigebracht wird.
«Hausaufgaben sind im Bewusstsein der Bevölkerung
gleich stark verankert wie die Noten 1 bis 6», sagt Beat Zemp, Präsident des
Lehrerverbandes. «Die Hausaufgaben zu streichen, führt zu emotionalen
Diskussionen.» Dennoch sieht Zemp geeignetere Möglichkeiten, die
Selbstständigkeit von Schülern zu fördern. Er schlägt spezielle
Hausaufgabenlektionen am späteren Nachmittag vor, in denen die Lernenden, wenn
nötig, Hilfe eines Lehrers anfordern könnten. Dann müssten Kinder die
Hausaufgaben nicht zu Hause lösen.
Zuversichtlich
ist Zemp allerdings nicht. «Solche Anliegen kosten Geld und gehören daher in
der heutigen Zeit extremer Abbaumassnahmen bei der Bildung in den Bereich des
Wunschdenkens», sagt er. Der Schulleiterverband will sich trotzdem des Problems
annehmen. «Eine Diskussion über die Hausaufgaben ist überfällig», sagt Gertsch.
«Wir werden unser Anliegen nun vorantreiben.»
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