19. August 2016

Zum Schulanfang

Liebe Eltern schulpflichtiger Kinder,
Wenn Sie diese Kolumne lesen, werde ich mein 41.Schuljahr als Lehrer in Angriff genommen haben. Natürlich hat sich während all dieser Jahre in meinem Arbeitsumfeld viel verändert und dabei ist es mir auch nicht entgangen, dass Sie, liebe Eltern, der Schule und dem Schulerfolg Ihrer Kinder mehr Bedeutung zukommen lassen, als dies meine Eltern taten. Damit eine nicht allzu sorgenvolle Zeit für sie anbricht, möchte ich Sie zu Beginn dieses Schuljahres auf einige Katastrophen hinweisen, die ich als Schüler überlebt habe. Es soll Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, bei all den kommenden Problemen zu mehr Gelassenheit verhelfen.
Zum Schulanfang, Bieler Tagblatt, 15.8. von Alain Pichard


1.    Velotouren ohne Velohelm
2.    Masern, Röteln, Scharlach ohne Impfung
3.    OL in einem Zeckengebiet ohne Warnbrief und Kleidervorschriften.
4.    Eine Zeugnisnote „3“ im Fach Mathematik ohne Diskalkuliediagnose und Förderplan
5.    Den tödlichen Herzinfarkts meines Klassenlehrers auf einer Schulreise ohne psychologische Nachbetreuung.
6.    Ein nicht gelerntes Diktat mit 30 Fehlern und einer „1“ ohne späteren Nachteilsausgleich und Spezialförderung.
7.    Die Aufsatzkorrekturen des Herrn Dr. Wehrle: „Es war eine Zumutung so etwas zu korrigieren“ ohne Verlust des eigenen Selbstwertgefühls.
8.    Schwimmen im Rhein ohne einen Betreuer mit Lebensretterbrevet.
9.    Den Alkoholausschank am St.Johanns-Fest als 12-jähriger ohne polizeiliche Nachuntersuchungen.
10. Den Physikunterricht des Dr. Würgers, des strengstens Lehrers des letzten Jahrhunderts, ohne Erschöpfungssyndrom.
11. Das Auswendiglernen von „Schillers Glocke“ ohne Überlastungssyndrom
12. Den Kinnhaken meines Klassenlehrers Rigling in der 4. Klasse ohne nachfolgende Anzeige meiner Eltern. Er hatte sich vorher brieflich entschuldigt und die zerbrochene Brille bezahlt!
13. Einen Boxkampf während einer Museumsführung in Augusta Raurica mit meinem Erzfeind Karl Kuske ohne nachherigen Gang zum Schulpsychologen.
14. Der Verrat meines Schulschätzchens Kathrin, die sich besagtem Karl Kuske anschloss, ohne dass Mobbingvorwürfe erhoben wurden.
15. Eine Freizeitgestaltung ohne Jugendarbeit.
16. Den Unterricht in einem Klassenzimmer mit 32 SchülerInnen ohne Speziallehrkraft.
17. Mindestens zehn Schuljahre ohne Schulreform
18. Den Rauswurf aus dem Gymnasium wegen zu vieler Absenzen, ohne dass meine Eltern Rekurs einlegten.
19. Ein halbes Jahr Arbeit im Schlachthof Basel plus Einstellung aller Zahlungen, zu dem mich mein Vater nach dem Rauswurf aus dem Gymnasium verdonnert hat, ohne anschliessendes Burnout
20. Ein Leben ohne Matur ohne gravierende Spätfolgen


Ich hatte übrigens eine sehr schöne Schulzeit.

1 Kommentar:

  1. Zur Kolumne von Alain Pichard ist am 15. Juli im Bieler Tagblatt folgender Leserbrief erschienen:
    Ich habe die einzigartige Kolumne von Alain Pichard ausgeschnitten, so wie ich auch alle bisherigen gesammelt habe. Eigentlich wäre dies eine Pflicht für alle Eltern mit schulpflichtigen Kindern, dasselbe zu tun. Diese Kolumne an die Pinnwand, Magnettafel oder Kühlschranktüre zu heften, wo sie, immer präsent, zum Nachlesen bereit steht. Wenn dann die Kinder nicht den Erwartungen der Eltern entsprechen, die geforderte Leistung nicht erbringen können oder sich «daneben» benehmen, sollten die Eltern in aller Ruhe das Angeheftete nachlesen und nachdenken. Bevor sie «Massnahmen» gegen Schule und Lehrer planen, um zu ihrem «Recht» zu kommen. Denn Alain Pichard hat mit viel Witz und verdeckter Ironie wieder einmal aufgezeigt, was im Schulbetrieb alles schief läuft, uns einen Spiegel vorgehalten. Dass nicht unbedingt die Uni nö- tig ist, um im Leben erfolgreich zu sein. Es war sicher nicht leicht, dies in den 20 aufgeführten Punkten so humorvoll darzulegen. Einzig Punkt 21 hat mir gefehlt. Ich nehme an, er hat, so wie ich viermal pro Tag zwei Kilometer zu Fuss, seinerzeit auch den Schulweg zu Fuss, mit dem Velo oder ÖV zurückgelegt. Wurde nicht mit dem Auto zur Schule gekarrt. Und hat in der täglichen Gemeinschaft mit seinen Mitschülern ganz automatisch und gratis die heute so stark geforderte Sozialkompetenz erworben. Ich gehe mit Martin Bühler aus Studen (Leserbrief im BT vom 16. Juli) einig, auch ich lebe noch, mit 83 Jahren und ähnlichen Erfahrungen! Alain Pichard, herzlichen Dank für den Artikel und für die bisherigen Kolumnen. Ich hoffe, es kommen noch viele dazu. Peter Sidler

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