Bildungspolitiker kämpfen mit allen
möglichen Mitteln für das Frühfranzösisch. Wissenschafter, die den Nutzen
anzweifeln, werden unter Druck gesetzt und diskreditiert.
Missliebige Ansichten werden unterdrückt. Illustration: Stephan Liechti
Kartell des Schweigens, NZZaS, 18.9. von Anja Burri
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Simone Pfenninger ist eine ehrgeizige
Frau. Ihrem Ziel, Professorin zu werden, ordnet die Sprachwissenschafterin am
Englischen Seminar der Universität Zürich vieles unter. Im Alter von 29 Jahren
startet sie ein Forschungsprojekt zum Fremdsprachenlernen. Von da an arbeitet
sie nicht nur die Wochenenden, sondern auch viele Nächte durch. Sie hofft, eine
in der Schweiz verbreitete Annahme bestätigen zu können: Je früher Kinder
Sprachen lernen, desto besser lernen sie. Mit einem solchen Resultat würde sie
in der internationalen Forschergemeinschaft für Aufsehen sorgen. Doch es kommt
ganz anders.
Pfenningers Resultate stützen die
Früher-desto-besser-Annahme nicht. Die Tests mit Zürcher Gymnasiasten zeigen
vielmehr, dass sich der frühe Englischunterricht später nicht zwingend
vorteilhaft auf die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler auswirkt. Dieses
Ergebnis bestätigt den bisherigen Stand der internationalen Forschung. In der
Schweiz sind Pfenningers Resultate politischer Sprengstoff. Die Konferenz der
kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) muss durchsetzen, dass alle
Deutschschweizer Kinder nicht nur Frühenglisch, sondern auch Frühfranzösisch
lernen. Sie hat kein Interesse daran, den Beginn des Fremdsprachenunterrichts
neu zu diskutieren. Das kriegt Simone Pfenninger deutlich zu spüren.
Der EDK-Präsident und baselstädtische
Bildungsdirektor Christoph Eymann spricht der Wissenschafterin kurzerhand die
Kompetenz ab, in der Fremdsprachendebatte mitzureden. «Aus Pfenningers Studie
können keine Erkenntnisse für die aktuelle Diskussion abgeleitet werden»,
schreibt er in der «Basler Zeitung». In einer Forschungsübersicht über die
relevanten internationalen Studien zum Fremdsprachenlernen habe Pfenningers
Arbeit keinen Eingang gefunden, «weil sie offensichtlich qualitativ nicht
genügte».
Auch im persönlichen Gespräch teilt
man Pfenninger mit, was man von ihrer Arbeit hält. Eine der EDK nahestehende
Person sagt ihr, sie wünschte, Pfenningers Studie wäre nie erschienen. Dass
Pfenningers Forschung ungelegen kommt, erfahren am Rande eines
Podiumsgespräches zum Sprachenstreit auch Journalisten. Der Veranstalter war im
Vorfeld von EDK-Generalsekretär Hans Ambühl darauf hingewiesen worden, dass die
Auswahl der Podiumsteilnehmer – unter ihnen Pfenninger – keine Freude mache. Es
ist offensichtlich, dass die EDK Pfenninger ruhigstellen möchte.
Furcht um Karriere
Pfenninger ist nicht die einzige
Wissenschafterin, die zwischen die politischen Fronten gerät. Weitere Forscher
in Freiburg und in Schaffhausen fassen in zwei verschiedenen Arbeiten den Stand
der Wissenschaft zur Frage des frühen Fremdsprachenlernens zusammen. Sie bestätigen
im Grundsatz das, was Pfenninger sagt: Schüler, die ein paar Jahre später mit
dem Fremdsprachenlernen beginnen, holen die Frühstarter relativ schnell ein. In
der Forschungsübersicht des Instituts für Mehrsprachigkeit, das an die
Universität Freiburg und die Pädagogische Hochschule Freiburg angegliedert ist,
heisst es: Aus Sicht der Forschung sei die Annahme, dass jüngere Kinder in der
Schule leichter Sprachen lernten, immer weniger wahrscheinlich. Trotzdem forme
die Annahme «bis heute das Denken von Forschung und Bildungspolitik».
Wie Pfenningers Befunde kommen auch
die beiden Studienübersichten bei der Bildungslobby schlecht an, so berichten
es mehrere gut informierte Personen der «NZZ am Sonntag». In Gesprächen mit
Vertretern der EDK oder kantonalen Bildungsbehörden und Politikern hätten dies
die Wissenschafter zu spüren gekriegt. Diese hätten um ihre Karriere oder um
Forschungsgelder fürchten müssen. Ein Wissenschafter gerät demnach in Konflikt
mit seinem Arbeitgeber. Er muss belegen, dass er die unliebsame
Studienübersicht nicht während seiner Arbeitszeit verfasst hat. Für den
Forscher soll es eine harte Zeit gewesen sein. Die betroffenen Wissenschafter
möchten sich auf Anfrage nicht zu diesen Vorfällen äussern. Zu gross ist ihre
Angst, dass ihnen eine Offenlegung schaden würde. Die Schaffhauser
Studienübersicht ist im Auftrag des kantonalen Lehrerverbands entstanden. Die
Lehrergewerkschaft wollte damit eine Debatte über den frühen
Fremdsprachenunterricht lancieren. Doch dazu sei es nie gekommen, sagt Cordula
Schneckenburger, Präsidentin des Lehrerverbands. Ein Treffen mit den politisch
Verantwortlichen des Kantons kam nicht zustande: «Man verweigerte uns das
Gespräch, forderte sogar, dass wir uns in dieser Sache nicht mehr äussern
sollten.»
Für Kampagnen
missbraucht
Raphael Berthele, Professor für
Mehrsprachigkeit, ist Co-Autor der Freiburger Studien–übersicht. Er reagiert
mit einem Rückzug aus dem Sprachenstreit: «Solange die Debatte um das
Fremdsprachenlernen so vergiftet ist, wird es für uns Wissenschafter schwierig,
unsere Rolle wahrzunehmen», sagt er. Das könne bedeuten, dass er seine
Forschungsfragen so gestalte, dass diese nicht von der Politik vereinnahmt
werden könnten. Berthele kritisiert in der jetzigen Fremdsprachendebatte alle
Seiten. «Resultate und Erkenntnisse werden selektiv herausgepickt,
interpretiert und kritisiert. Dabei geht es immer darum, das eigene politische
Ziel als «wissenschaftlich» zu verteidigen», sagt er. Als Wissenschafter
befinde er sich oft in der unangenehmen Rolle, weil seine Resultate nicht nur von
der Sprachenpolitik benutzt, sondern für politische Kampagnen missbraucht
würden.
Die politische Diskussion über
Forschungsresultate erstaunt Pfenningers Co-Autor und Mentor David Singleton.
Er habe es noch nie erlebt, «dass die Debatte um den Einfluss des Alters beim
Fremdsprachenlernen so politisiert wird wie in der Schweiz», sagt der
international renommierte Sprachwissenschafter aus Dublin. Die Universität
Zürich steht hinter Pfenningers Arbeit. Die Wissenschafterin erhält ihre
Habilitation und wird für ihre Arbeit mit dem Mercator Award ausgezeichnet,
einem Preis für herausragende Nachwuchsforscher. Simone Pfenninger reagiert
denn auch anders als ihre Kollegen aus Freiburg und Schaffhausen auf die
Kontroverse und geht in die Offensive. Sie gibt den Medien ausführlich Auskunft
über ihre Resultate. Das Bild der grossen, blonden Frau mit den markanten
Wangenknochen ist auf allen Kanälen zu sehen. Pfenninger ist auch deshalb eine
gefragte Interviewpartnerin, weil sie markige Sätze in die Mikrofone sagt und
ihre Resultate selbstbewusst in Politik ummünzt. «Englisch kann man tatsächlich
auf die Oberstufe verschieben», sagte sie der «NZZ am Sonntag». Und im
«Tages-Anzeiger» erklärte sie «das heutige Kurzfutterkonzept mit rund zwei
Wochenlektionen in der Primarschule pro Sprache» kurzerhand «zum Scheitern
verurteilt».
Es sind Aussagen, die von den
politischen Gegnern der EDK benutzt werden. Sie dienen ihnen als Argumente
wahlweise gegen das Frühenglisch oder das Frühfranzösisch. In mehreren Kantonen
haben sie Volksinitiativen oder parlamentarische Vorstösse lanciert, um die
zweite Fremdsprache wieder auf die Sekundarstufe zu verschieben. Der Streit
darüber, wie die Kinder Fremdsprachen lernen sollen, hat die ganze Schweiz
erfasst. Die Kontroverse ist so heftig, dass sich Kulturminister Alain Berset
gezwungen sieht, eine rote Linie zu ziehen. Sollte es Kantone geben, die ihren
Primarschülern nur noch Englisch lehren, sieht er den Zusammenhalt der
viersprachigen Schweiz in Gefahr und will eingreifen.
Für die EDK steht enorm viel auf dem
Spiel. Für sie geht es in der Fremdsprachenfrage nicht nur um den Zusammenhalt
des Landes, sondern auch um viel Geld. Erst vor wenigen Jahren haben die
meisten Kantone die zweite Fremdsprache auf die Primarstufe verschoben. Lehrer
wurden ausgebildet. Neue Lehrmittel angeschafft. Eine so rasche Abkehr von
diesem System würde erneut viel kosten und grossen Aufwand bedeuten. Es geht
aber auch um Macht. Die Bildung ist einer der letzten wichtigen politischen
Bereiche, in denen die Kantone das Sagen haben. Mit einem Eingreifen des Bundes
käme der föderalistische Grundsatz, dass jeder Kanton für seine Volksschule
verantwortlich ist, ins Wanken.
So erklärt EDK-Präsident Christoph
Eymann seinen Angriff auf Simone Pfenninger mit politischen Motiven. Es sei ihm
in keiner Art und Weise darum gegangen, mit seinen Äusserungen die Arbeit der
Wissenschafterin geringzuschätzen, sagt Eymann, dies nachdem er in der «Basler
Zeitung» die Qualität der Forschung anzweifelte. Es gebe aber Gruppierungen,
die zwei Fremdsprachen auf Primarstufe infrage stellten oder den Start des
Sprachenunterrichts in der dritten Klasse bekämpften, sagt Eymann: «Diese
Gruppierungen führen diese Studie als ultimatives Beweismittel auf, und das ist
überhaupt nicht angebracht.» Auf den Vorwurf, Wissenschafter gerieten im
Sprachenstreit unter politischen Druck, reagiert er gelassen. Er wisse davon
nichts. «Druckversuche gegen Wissenschafter finde ich grundsätzlich nicht gut.»
Für den Politiker Eymann gibt es derzeit ohnehin zu viele Studien im
Bildungsbereich. «Weniger wäre oft mehr», sagt er.
Mehr Geduld
gefordert
Die Erziehungsdirektoren haben im
Sprachenstreit auch Wissenschafter auf ihrer Seite. So haben sich über hundert
Fachleute in einer öffentlichen Stellungnahme für zwei Fremdsprachen auf der
Primarstufe ausgesprochen. Viele von ihnen sind als Macher von Lehrplänen und
Lehrmitteln oder als Lehrerausbildner in den frühen Fremdsprachenunterricht involviert.
Sie plädieren für mehr Geduld: Aus ihrer Sicht kann die Wissenschaft den
Fremdsprachenunterricht an der Primarschule erst seriös untersuchen, wenn
dieser sich in allen Kantonen eingependelt hat.
Die EDK hat selber auch eine
Forschungsübersicht in Auftrag gegeben. Internationale Wissenschafter wählten
dafür nach bestimmten Qualitätskriterien Studien aus. Die Forschung von Simone
Pfenninger kam nicht in diese Auswahl. Die Übersicht streicht verschiedene
Vorteile des frühen Fremdsprachenunterrichts heraus. Aber auch sie macht
Vorbehalte zum Grundsatz «Je früher, desto besser» sichtbar: Ältere Schüler
lernten eine zweite Fremdsprache in der Regel rascher als jüngere. Die Autoren
der Übersicht hüten sich jedoch davor, politische Schlüsse aus den Befunden zu
ziehen. «Es steht in keiner Studie, dass es besser wäre, den frühen
Sprachenunterricht auf später zu verschieben», sagt Stefan Denzler. Er ist
stellvertretender Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für
Bildungsforschung (SKBF). Sie hat die von der EDK bestellte Forschungsübersicht
zusammengefasst und veröffentlicht. Denzler sagt, in der Schweiz sei der
Fremdsprachenunterricht noch kaum erforscht. Aufgrund einer einzelnen Studie
ein ganzes Schulsystem zu ändern, wäre fahrlässig. Er spricht damit indirekt
Pfenningers Studie an.
EDK: wehe, wenn sie losgelassen!
AntwortenLöschenDie EDK scheint sich immer mehr als von der Kantonshoheit im Bildungswesen abgehobenes Gremium zu gebärden, das offenbar keiner demokratischen Aufsicht untersteht. Druckversuche gegen Wissenschaftler ist das letzte Beispiel in einer längeren Reihe. Beim umstrittenen Projekt Lehrplan 21 wird vom Kartell verschwiegen, dass es mit der mysteriösen Kompetenzorientierung und dem konstruktivistischen „selbstgesteuerten Lernen“ um den radikalsten Systemwechsel in der Geschichte der Volksschule geht, der qualifizierte Lehrer und den bewährten Klassenunterricht abschaffen will. Schon in der NZZ vom 13.8.2013 wurde auf die finsteren Pläne der EDK am Volk vorbei aufmerksam gemacht: «Gewarnt sei vor einem staatlichen Umerziehungsplan, der in Form eines «modernen» Lehrplans daherkommt.» Entgegen den ständigen Behauptungen der EDK wurde mit dem Bildungsartikel von 2006 nicht über den Lehrplan 21 abgestimmt. Die Rechtsgrundlage des LP21 ist eine blosse Verwaltungsvereinbarung der EDK von 2010, mit der de facto die kantonalen Parlamente umgangen werden konnten. Wenn renommierte Wissenschaftler wie Simone Pfenninger die Schweiz verlassen, ist das ein Alarmzeichen. Das erfolgreiche Schweizer Bildungssystem darf nicht am Volk vorbei heimlich beerdigt werden!