16. Januar 2017

Goethe oder Google?

«Pisa» heisst das Stichwort für das angebliche Versagen unseres Schulsystems, zumindest was das Lesen, das heisst das Textverständnis, der Schüler betrifft. Die Studie über die Basis-Kompetenzen unserer Schüler im internationalen Vergleich misst die Lesefähigkeit anhand von Gebrauchstexten – eine Voraussetzung dessen, was man gemeinhin unter «Bildung» versteht. Die Studie löst immer wieder eine breite, mitunter heftig geführte Diskussion über Sinn und Unsinn der traditionellen Bildung aus. Dabei stehen sich zwei Auffassungen diametral gegenüber: eine ältere Auffassung, welche die Bedeutung der humanistischen Bildung betont und gleichzeitig die Gefährdung traditioneller Lerninhalte beklagt, und eine neuere Auffassung, wonach sich die Bildung an ihrem praktischen Nutzen messen lassen muss. Die Vertreter der letzteren gehen teilweise so weit, dass sie nicht nur Griechisch, Latein und Goethes «Faust» im Gymnasium für überflüssig halten, sondern selbst den traditionellen Mathematikunterricht. Nach ihnen hat die Schule ganz allgemein zum Ziel, die Schüler auf ein erfolgreiches berufliches Leben vorzubereiten.
Goethe oder Google: Wer erklärt die Welt? Thurgauer Zeitung, 16.1. von Mario Andreotti


Zwar ist es selbstverständlich, dass die Schule praktische Fertigkeiten lehren soll: Lesen, Schreiben, Rechnen, den Umgang mit PC und Internet. Entscheidend aber ist, dass sie auch Ideale und Sinnzusammenhänge vermittelt, die allem praktischen, individuellen Nutzen vorausgehen. Bis in die frühe Neuzeit waren das die Werte der christlichen Lebensordnung. Auf sie folgte das humanistische, an der griechisch-römischen Antike und den Klassikern der National­literaturen orientierte Bildungsideal – in Italien etwa Dante, Petrarca und Boccaccio, in Deutschland Goethe und Schiller. Beide Leitkulturen hatten das gleiche Ziel: den Zusammenhalt des Gemeinwesens zu sichern. So verstandene Bildung ist eine Notwendigkeit, denn eine Gemeinschaft funktioniert nur, wenn ihre Mitglieder sich verständigen können – und zwar nicht nur schlecht und recht, sondern korrekt und differenziert. Sprachbeherrschung in Wort und Schrift ist die Grundlage aller Bildung! Muss noch eigens betont werden, dass es hierzu keine bessere Schule als die Literatur gibt? Dazu kommen als unverzicht­bare Forderung Kenntnisse der Geschichte. Ein demokratischer Staat kann nur von Menschen gestaltet werden, welche die Bedingungen seiner Entstehung und seine tragenden Kräfte kennen.

Bildung zielt aber nicht nur auf staatsbürgerliche Pflichterfüllung, sondern ebenso sehr auf ein freieres, reicheres und erfüllteres Leben. Und das sowohl «in Einsamkeit und Freiheit», wie Wilhelm von Humboldt formuliert hat, als auch im geselligen Kreis. Sie ist kein Dekor, das man sich zulegt, nachdem man alles «Nützliche» erworben hat. Sie ist die Basis, auf der alles andere ruht.

Bildung lässt sich nicht in der Hast rascher Erledigung erwerben; sie ist mehr als fachliche Qualifikation und «Fitsein für ...». Wer sich bildet, braucht Geduld und Selbstdisziplin, ähnlich dem, der einen Sport ausübt oder ein Instrument erlernt. Doch er wird belohnt: Homer und Dante, Shakespeare und Goethe, Proust und Döblin bringen ihm unendlich viel mehr Freude und Einsicht als mindere, auf den ersten Blick zugänglichere Autoren oder gar die Volksverblödungsmaschinerien der Privatfernsehsender, denen die Menschen Tag und Nacht ausgesetzt sind. Die Kultur ist ein Gewebe, in dem alles mit allem zusammenhängt. Motive der griechischen oder germanischen Mythologie, des Volksmärchens oder der Bibel begegnen uns in der Literatur wie in der Oper, im Sprechtheater, im Museum, aber auch in tausend alltäglichen Dingen. Wohl dem, der sie entziffert; ihm zeigt sich die Welt als ein vielschichtig lesbares Buch. Und damit erlebt er ein Glück der Erkenntnis, das über jeden praktischen Nutzen weit hinausgeht.

Der Autor ist Dozent für Neuere deutsche Literatur und Buchautor

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