13. Januar 2017

PISA und die Ameisen

Ende 2016 wurden die Schweizer 15-Jährigen Europameister in Mathematik. Das ist erfreulich. Nur, seit dem Ende der Kolonialzeit sind Europameister nicht mehr automatisch Weltmeister. Haben wir es aufgegeben, uns mit den Klassenbesten zu vergleichen, mit Singapur, China, Taiwan, Südkorea, Japan? – Ich habe je einen Drittel meiner beruflichen Laufbahn in Afrika, im Nahen Osten und in Ostasien verbracht. Die Chefs der Asienabteilung des UNDP stammten aus Nationen, die im Pisa-Test die ersten fünf Ränge belegen. Es sind konfuzianisch durchdrungene Länder. Die diesseitige Philosophie des Konfuzius geht davon aus, dass das Universum, die Welt und der Mensch rational verstanden werden können. Ziel des Lebens ist, der bestmögliche Mensch zu werden, ohne Hoffnung auf Belohnung im Diesseits oder im Jenseits. Dazu braucht es Fleiss, Disziplin und Leistung. Dies sollte uns Europäern bekannt vorkommen. Schon die Aufklärer haben Konfuzius studiert. Immanuel Kants kategorischer Imperativ gleicht der Ethik des chinesischen Altmeisters. All das wissen gebildete Ostasiaten. Ihr Bild der Moderne ist dem heutigen Westeuropa geistesverwandter als Islamismus, Animismus oder christlicher Fundamentalismus.
Der Pisa-Test und die Ameisen, NZZ, 13.1. Gastkommentar von Toni Stadler


Europäische Bildungsverantwortliche haben Mühe mit den fernöstlichen Schulsystemen. Irgendetwas an solchen Spitzenleistungen kann doch nicht stimmen. Natürlich kommt die Kritik politisch korrekt daher: Zweifellos wissen die Ostasiaten, wie man organisiert, wie man den Kindern Mathematik, Physik, Chemie, Ökonomie einpaukt, doch gerade deswegen fehlt es an Kreativität, an Erfindungsgabe und ganz generell an einer humanistischen Bildung, wie sie an den philosophischen Fakultäten Europas erworben werden kann. Die französische Premierministerin Edith Cresson hatte diese Art von Hochnäsigkeit einmal ungewollt auf den Punkt gebracht, als sie sagte: «Wir Europäer sind keine Ameisen.»
Vermutlich hat der westliche Rückstand im Pisa-Test wenig mit Drachenmüttern und Ameisenfleiss zu tun, dafür viel mit einer bewussten Beschränkung der Lehrpläne aller Stufen auf das Wesentliche und Anwendbare. In Ostasien werden Naturwissenschaften und Technik mit Fortschritt und steigendem Wohlstand assoziiert. Dies hat fast überall zu zeitgemässen Bildungssystemen geführt. In Singapur, Korea, Taiwan und in den Grossstädten Chinas studieren zwei Drittel der Studenten im Hauptfach Mint-Disziplinen, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Ingenieurwesen. Integriert in die Hauptfächer sind die allgemeinbildenden Nebenfächer. Durch das Verknüpfen von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft wird die Trennung zwischen exakten und nichtexakten Wissenschaften gemildert. Es lohnt sich, die Lehrpläne von Singapur anzuschauen: Zur Kunstfertigkeit in der Primarschule gehört das Malen von Schriftzeichen; zur Mathematik in der Sekundarschule gehört die Geschichte der Zahlen und ihrer Beziehungen zueinander; im Fach «Menschsein» auf der Gymnasialstufe werden Biologie, Sozialverhalten, Rechtskunde vermittelt.

Seit etwa 1970 ist es in Europa chic, gegenüber Naturwissenschaften und Technik skeptisch zu sein. Gleichzeitig wird unsere Jugend auf der Basis eines Angebots schöngeistiger Fächer aus dem 19. Jahrhundert unterrichtet. Damals befasste man sich mit den Unterschieden zwischen den Nationen, zwischen den Sprachen, zwischen den Rassen, zwischen Kulturen und Religionen. Die mit Abstand grösste Fakultät war und ist die philosophische Fakultät. Noch heute leisten sich die Länder der Europäischen Union den Luxus, bis zur Hälfte ihrer begabtesten 20-Jährigen vergangenheitslastige Geisteswissenschaften studieren zu lassen: von der griechischen Philologie über die Skandinavistik bis zur Indologie, so als ob die Universitäten jener Länder dies nicht selbst tun könnten. Einmal gegründete Forschungsgebiete sind in Europa unsterblich. Niemand fragt: Wozu tun wir das heute noch?

Was lernen vom Fernen Osten? In einer zusammenwachsenden Welt brauchen Heranwachsende das Rüstzeug, um Gegenwarts- und Zukunftsprobleme lösen zu können: Klimawandel, Einbezug der armen Länder in die Globalisierung, vernünftige Kontrolle der Migration, Umgang mit Andersheit. Eine Fokussierung der Lehrpläne auf das Anwendbare und Finanzierbare würde Europa guttun. Auf Kosten von Fächern, die sich in den vergangenen 150 Jahren angesammelt haben und die heute keine Prioritäten mehr sind. Es geht um eine Balance zwischen dem Glück der freien Studienwahl und dem Beitrag staatlich finanzierter Universitätsbildung an die Gesellschaft. Die Studentenzahlen steigen, gleichzeitig importiert die Schweiz Naturwissenschafter. Ein Numerus clausus für Geisteswissenschaften und gewisse Sozialwissenschaften wäre der Anfang einer Trendumkehr.

Toni Stadler ist Historiker mit 20 Jahren Arbeitserfahrung bei IKRK, Uno, Deza und OECD; er ist Autor des Romans «Global Times» (Offizin-Zürich-Verlag, 2015).


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