11. Januar 2017

Religiöse Pluralität erfordert einen säkularen Staat

Muslimische Schülerinnen können sich nicht auf die Religionsfreiheit berufen, um sich vom Schwimmunterricht dispensieren zu lassen: Mit diesem Urteil verhilft derEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einem vom Bundesgerichterlassenen Grundsatz zum Durchbruch – und unterstreicht damit, dass «fremde Richter» hierzulande geltende Auffassungen keineswegs nur rügen, sondern sie in wichtigen Fragen aktiv mittragen und ihnen zu Gewicht verhelfen. Das Urteil ist richtig: Die Religionsfreiheit ist keine Ermächtigung zur Zusammenstellung des Stundenplans nach eigenen Wertvorstellungen. Eine solche Auslegung widerspräche dem Sinn dieses Freiheitsrechtes.
Keine Sonderrechte für Sektierer, NZZ, 11.1. Kommentar von Daniel Gerny

In Europa und in der Schweiz hat die Religionsfreiheit einen stark integrativen Charakter. Das erklärt sich aus ihrer Geschichte. Der Gedanke der religiösen Neutralität geht auf die konfessionellen Kriege zurück und bezweckte das friedliche Zusammenleben der Konfessionen. Die Kirchenspaltung zwang den Staat zu konfessioneller Neutralität: Dadurch sicherte er sich die Autorität der letzten Entscheidung. Diese Haltung, die hart erkämpft werden musste, schlägt sich heute auch im Bildungswesen nieder. Der Schulalltag ist weder auf eine christliche noch auf eine andere Glaubensrichtung ausgerichtet. Die Lehrpläne werden nach wissenschaftlichen Kriterien erarbeitet und von politisch gewählten Gremien verabschiedet. Damit rechtfertigt die Schule die Pflicht zum Unterrichtsbesuch, und zwar unabhängig davon, ob sich die Eltern mit dem Schwimmunterricht oder mit der darwinistischen Evolutionstheorie schwertun.

Die religiöse Neutralität der Schule ist so verstanden kein gegen die Religion gerichteter Grundsatz – im Gegenteil: Religiöse Pluralität erfordert gerade einen säkularen Staat. Die meisten Religionsvertreter wissen dies: Weder gegen den Sexualunterricht mit Plüschgenitalien noch gegen den Schwimmunterricht kommt die Opposition in erster Linie von gewichtigen Theologen, sondern von Sektierern, die ihr Weltbild nicht nur über das Bildungsinteresse ihrer eigenen Kinder stellen, sondern über alles, was sich nicht zu hundert Prozent mit eigenen Überzeugungen deckt. Sie machen sich die Freiheitsrechte zunutze, um sich von den Einflüssen einer freiheitlichen Gesellschaft abzuschotten. Es ist gut, dass der EGMR dies nicht schützt.

Weniger klar ist freilich, was mit dem Urteil wirklich gewonnen ist. Es betrifft einen extremen Fall, wie er die Behörden nur ausnahmsweise absorbiert. Die Schulen des multikulturellen Zeitalters aber sind permanent mit Fragen des religiösen Selbstverständnisses und Zusammenlebens konfrontiert. Die konsequente Verbannung der Religion aus dem Klassenzimmer, mit dem Ziel, Schule aus Angst vor möglichen Konflikten möglichst wertfrei zu gestalten, ist deshalb nicht die richtige Schlussfolgerung aus dem EGMR-Urteil. So würde eine inhaltsleere und damit letztlich wirkungslose Toleranz befördert. Religion lässt sich nicht einfach aus dem Blickfeld verdrängen. Sie prägt uns, und ihre Symbole sind stets präsent. Die Schule ist in den letzten Jahren nicht zufällig zunehmend zum Ort für religiöse Konflikte geworden. Sie kommt nicht darum herum, sich an deren Bewältigung zu beteiligen.


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