17. August 2017

Naive Natives

Der romantische Mythos vom edlen Wilden kennt viele Varianten. In letzter Zeit erfreute sich vor allem die technoide Version grosser Beliebtheit. Die Digital Natives durchstreiften angeblich das Netz mit derselben Sicherheit wie indigene Völker den Dschungel oder die Prärie, sie verwendeten ihre Laptops, Smartphones und Tablets ähnlich souverän wie die naturverbundenen Eingeborenen ihre Lanzen, Pfeile und Bögen. Entsprang die Vorstellung vom edlen Wilden der Phantasie romantischer Zivilisationskritiker, so die von den Digital Natives dem Wunschdenken technikaffiner Pädagogen. Beide einte aber eine Haltung: Sie sahen im Objekt ihrer Begierde das, was sie selbst nicht waren.
Naive Natives, NZZ, 16.8. von Konrad Paul Liessmann


Aufmerksamen Beobachtern war die euphorische Rede von den Digital Natives immer schon verdächtig vorgekommen. Nur weil ein Kind in einer von digitalen Geräten geprägten Umwelt aufwächst, beherrscht es diese nicht besser als jene Digital Immigrants, die sich erst später mit neuen Technologien anfreunden. Wer sich ein wenig mit Technikgeschichte beschäftigt hatte, wusste zudem, dass ein reflektierter Umgang mit neuen Technologien ohnehin eher dort stattfindet, wo die Erinnerung an die antiquierten Techniken noch wach ist. Dass solche Vermutungen nicht unbegründet waren, bestätigt eine kürzlich veröffentlichte internationale Metastudie, die zeigt, dass junge Menschen, die in digitalisierten Umgebungen aufwachsen, keinerlei bemerkenswerte zusätzliche digitale Kompetenzen aufweisen und dass sie im kritischen Umgang mit neuen Medien genauso geschult werden müssen wie alle anderen.

Dieser Befund könnte nicht nur die Vorstellung, es genüge, Klassenzimmer mit Whiteboards und Kinder mit Tablets auszustatten, um Bildungsrevolutionen auszulösen, einigermassen erschüttern, er könnte auch Anlass geben, einmal prinzipiell über die Sehnsucht von Erwachsenen, Kinder und Jugendliche mit Wunschprojektionen aller Art zu überschütten, nachzudenken. Was steckte eigentlich hinter der von manchen Didaktikern mit Inbrunst vorgetragenen These, dass sich in der digitalen Welt die Rollen von Lehrern und Schülern vertauschen und sich nun die Lehrer bei den ihnen anvertrauten Kindern den Umgang mit dem Computer abschauen sollten? Was bewog Soziologen und Pädagogen, Jugendlichen gleichsam angeborene Kenntnisse für eine Welt zuzuschreiben, die ja nicht diese selbst, sondern Erwachsene geschaffen hatten?

Im Wesentlichen können zwei Motive für dieses überzogene Adorieren juveniler Kompetenzen angenommen werden: einmal der Versuch, die Lösung der Probleme, die man selbst verursacht hat, auf die kommenden Generationen zu schieben. Damit das plausibel ist, müssen diese mit Fähigkeiten ausgestattet werden, deren man selbst entbehrt. Und zum anderen eine fundamentale Unsicherheit, die schon den Anspruch, dass Erwachsene jungen Menschen etwas beibringen könnten, als illegitim erscheinen lässt. Lehrern, denen ständig gesagt wird, dass sie nichts mehr zu lehren hätten, muss die Kunde von Kindern, die ohnehin alles schon besser können, wie eine erlösende Botschaft erschienen sein.

Gut also, dass es empirische Studien gibt. Jetzt kann man wieder mit ruhigem Gewissen darüber nachdenken, welche Kenntnisse und Fähigkeiten man in Schulen und Universitäten vermitteln sollte, damit sich die Menschen in der digitalen Welt nicht wie junge Wilde, sondern wie zivilisierte und souveräne Bürger bewegen können.

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.



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