Der romantische Mythos vom edlen Wilden kennt viele Varianten. In
letzter Zeit erfreute sich vor allem die technoide Version grosser Beliebtheit.
Die Digital Natives durchstreiften angeblich das Netz mit derselben Sicherheit
wie indigene Völker den Dschungel oder die Prärie, sie verwendeten ihre
Laptops, Smartphones und Tablets ähnlich souverän wie die naturverbundenen
Eingeborenen ihre Lanzen, Pfeile und Bögen. Entsprang die Vorstellung vom edlen
Wilden der Phantasie romantischer Zivilisationskritiker, so die von den Digital
Natives dem Wunschdenken technikaffiner Pädagogen. Beide einte aber eine
Haltung: Sie sahen im Objekt ihrer Begierde das, was sie selbst nicht waren.
Naive Natives, NZZ, 16.8. von Konrad Paul Liessmann
Aufmerksamen Beobachtern war die euphorische Rede von den Digital
Natives immer schon verdächtig vorgekommen. Nur weil ein Kind in einer von
digitalen Geräten geprägten Umwelt aufwächst, beherrscht es diese nicht besser
als jene Digital Immigrants, die sich erst später mit neuen Technologien
anfreunden. Wer sich ein wenig mit Technikgeschichte beschäftigt hatte, wusste
zudem, dass ein reflektierter Umgang mit neuen Technologien ohnehin eher dort
stattfindet, wo die Erinnerung an die antiquierten Techniken noch wach ist.
Dass solche Vermutungen nicht unbegründet waren, bestätigt eine kürzlich
veröffentlichte internationale Metastudie, die zeigt, dass junge Menschen, die
in digitalisierten Umgebungen aufwachsen, keinerlei bemerkenswerte zusätzliche
digitale Kompetenzen aufweisen und dass sie im kritischen Umgang mit neuen
Medien genauso geschult werden müssen wie alle anderen.
Dieser Befund könnte nicht nur die Vorstellung, es genüge, Klassenzimmer
mit Whiteboards und Kinder mit Tablets auszustatten, um Bildungsrevolutionen
auszulösen, einigermassen erschüttern, er könnte auch Anlass geben, einmal
prinzipiell über die Sehnsucht von Erwachsenen, Kinder und Jugendliche mit
Wunschprojektionen aller Art zu überschütten, nachzudenken. Was steckte
eigentlich hinter der von manchen Didaktikern mit Inbrunst vorgetragenen These,
dass sich in der digitalen Welt die Rollen von Lehrern und Schülern vertauschen
und sich nun die Lehrer bei den ihnen anvertrauten Kindern den Umgang mit dem
Computer abschauen sollten? Was bewog Soziologen und Pädagogen, Jugendlichen
gleichsam angeborene Kenntnisse für eine Welt zuzuschreiben, die ja nicht diese
selbst, sondern Erwachsene geschaffen hatten?
Im Wesentlichen können zwei Motive für dieses überzogene Adorieren
juveniler Kompetenzen angenommen werden: einmal der Versuch, die Lösung der
Probleme, die man selbst verursacht hat, auf die kommenden Generationen zu
schieben. Damit das plausibel ist, müssen diese mit Fähigkeiten ausgestattet
werden, deren man selbst entbehrt. Und zum anderen eine fundamentale
Unsicherheit, die schon den Anspruch, dass Erwachsene jungen Menschen etwas
beibringen könnten, als illegitim erscheinen lässt. Lehrern, denen ständig
gesagt wird, dass sie nichts mehr zu lehren hätten, muss die Kunde von Kindern,
die ohnehin alles schon besser können, wie eine erlösende Botschaft erschienen
sein.
Gut also, dass es empirische Studien gibt. Jetzt kann man wieder mit
ruhigem Gewissen darüber nachdenken, welche Kenntnisse und Fähigkeiten man in
Schulen und Universitäten vermitteln sollte, damit sich die Menschen in der
digitalen Welt nicht wie junge Wilde, sondern wie zivilisierte und souveräne
Bürger bewegen können.
Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von
Philosophie und Ethik an der Universität Wien.
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