Keine Klasse steht ohne Lehrer da. Das melden zu Beginn des Schuljahresdie meisten Kantone. Vielerorts sind in der Volksschule offiziell nur noch eine
Handvoll Teilzeitpensen unbesetzt. Ist der jahrelang beklagte Lehrermangel also
behoben? Mitnichten, wie sich auf den zweiten Blick zeigt. Auf allen Stufen
sind Stellenbesetzungen teilweise nur mit Kompromissen möglich.
Lehrermangel wird sich zuspitzen, Tages Anzeiger, 15.8. von Raphaela Birrer
So ist zum Beispiel gemäss einer aktuellen repräsentativen Studie des
Schulleiterverbands (VSLCH) jeder vierte Lehrer nicht für die Stufe ausgebildet,
auf der er unterrichtet. Und manchmal stehen sogar Lehrer vor den Klassen, die
nie eine pädagogische Ausbildung absolvierten, wie Franziska Peterhans vom
Lehrerdachverband (LCH) weiss. Dieser «qualitative Lehrermangel» hat
unterschiedliche Ausprägungen.
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Kindergarten:
Viele Gemeinden bekunden Mühe, Lehrpersonen für diese Stufe zu finden.
Der Kanton Zürich etwa beschreibt die Situation als «angespannt». Ein Grund
dafür ist gemäss VSLCH-Präsident Bernhard Gertsch die Umstrukturierung der
Ausbildung: Heute besuchen angehende Kindergärtnerinnen zusammen mit
Unterstufenlehrern die Pädagogische Hochschule. Ihre Arbeitsbedingungen seien
danach aber schlechter, etwa in Bezug auf den Lohn, weshalb sie die Unterstufe
bevorzugten, sagt Gertsch.
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Primar- und Sekundarstufe:
Ohne Stellvertreter, ohne Lehrer mit unvollständigem Diplom und vor
allem ohne Quereinsteiger, die sich noch in der Ausbildung befinden, liessen
sich zahlreiche Stellen nicht besetzen. Im Kanton Zürich zum Beispiel sind es
in der Primarschule aktuell 75 und auf Sekundarstufe 29 Quereinsteiger, die
bereits in der sogenannten berufsintegrierenden Studienphase eine Anstellung
als Lehrperson übernehmen. «Diese Massnahme hilft bei Engpässen; wir sind auf
die Quereinsteiger angewiesen», sagt Marion Völger, Leiterin des Zürcher
Volksschulamts. Andere Kantone erheben solche Zahlen nicht. An der
Pädagogischen Hochschule Zürich machen Quereinsteiger mittlerweile 20 Prozent
der Absolventen aus, wie Rektor Heinz Rhyn sagt. Indem sie im zweiten Teil
ihres Studiums eine 40- bis 60-Prozent-Stelle annähmen, trügen sie dazu bei,
den Lehrermangel zu entschärfen.
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Schulische Heilpädagogik:
Hier besteht in allen Kantonen der eklatanteste Mangel. Seit Schüler mit
besonderen Bedürfnissen in den Regelklassen integrativ geschult werden, ist der
Bedarf an Heilpädagogen stark gestiegen. Häufig übernehmen deshalb
Lehrpersonen, die nicht dafür ausgebildet sind, deren Aufgaben. Gemäss der
Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik verfügen nur 50 bis 60 Prozent der
Lehrer, die als Heilpädagogen arbeiten, über ein entsprechendes Diplom. Auf der
Sekundarstufe bestehe der grösste Mangel, sagt Rektorin Barbara Fäh. Ein Grund
dafür sei, dass nach dem Masterstudium Sekundarstufe noch eines in
Sonderpädagogik erforderlich sei – ein grosser Aufwand. Grundsätzlich wäre aber
die Nachfrage nach Studienplätzen um 30 Prozent höher als deren effektive Zahl.
Ein Ausbau wiederum läge in der Hand der Kantone: Sie könnten zusätzliche
Studienplätze kaufen.
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Fachlehrer:
Auf Primar- und Sekundarstufe gestaltet sich die Lehrersuche in gewissen
Fächern besonders schwierig. Engpässe bestehen zum Beispiel im Französisch: Die
politische Diskussion rund um die Abschaffung des Frühfranzösisch schrecke
angehende Lehrer davon ab, die aufwendige Ausbildung mit Sprachaufenthalten und
Diplomen auf sich zu nehmen, beobachten der Lehrer- und der Schulleiterverband
übereinstimmend. «Wir wissen, dass es für die Gemeinden nicht einfach ist,
Französischlehrer zu finden, weil es vergleichsweise noch wenige gibt», sagt
auch Völger. Um die Nachfrage längerfristig zu decken, werde bei der Ausbildung
angesetzt. «Attraktive Vertiefungsangebote an der Pädagogischen Hochschule
können mehr Studenten dazu bewegen, sich auf Französisch zu spezialisieren.»
Im Moment können die Schulen mit ihren personalpolitischen Kompromissen
zwar die meisten Stellen besetzen. Doch die Situation wird sich schon bald
verschärfen. Zum einen wird in den nächsten zehn Jahren rund ein Drittel aller
Lehrer pensioniert. Oft handelt es sich dabei um Männer, die Vollzeit oder zu
einem hohen Prozentsatz unterrichteten. Da heute viele der zumeist weiblichen
Lehrpersonen Teilzeit arbeiten, werden die Stellen nur mit grossen
Anstrengungen zu besetzen sein.
Zum anderen stellt die demografische Entwicklung die Schulen vor
Herausforderungen. Bereits heute zeichnet sich in den Kindergärten ab, was das
Bevölkerungswachstum für die Bildungsinstitutionen bedeuten wird.
Bildungsforscher Stefan Wolter prognostiziert bis ins Jahr 2025 Höchststände
bei den Schülerzahlen. Der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für
Bildungsforschung geht von einer schweizweiten Zunahme von 13 Prozent aus. In
einigen Kantonen wie Basel-Stadt, Zürich oder Thurgau werden die Schülerzahlen
demnach gar um fast 20 Prozent ansteigen. Alleine auf der Primarstufe dürften
in nicht allzu ferner Zukunft 87 000 Kinder mehr zur Schule gehen als aktuell.
Die Kantone sind sich der Herausforderungen bewusst. Allein: Eine
Strategie zu deren Bewältigung scheint noch zu fehlen.
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