11. Oktober 2017

Mobbing: Geissel des Schulalltags

Die heute zwölfjährige Selina wurde jahrelang von ihren Mitschülern gemobbt. Jetzt hofft das Mädchen auf einen Neuanfang
Der tägliche Gang zur eigenen Hinrichtung, Basler Zeitung, 10.10. von Nina Jecker


«Hoffentlich bekommst du Krebs» – es ist kurz vor den Sommerferien, als Selina nach Schulschluss einen Zettel mit dieser Aufschrift in ihrer Jacke findet. Die Zwölfjährige tut so, als wäre nichts, und steckt das Papier zurück in die Tasche. Daheim in ihrem Zimmer holt sie ihn wieder hervor und dann kommen auch die Tränen. Bis das Handy piepst. «Na, tust du uns den Gefallen und hast endlich einen Tumor?», haken ihre Mitschüler via Whatsapp nach. Selina sitzt am Boden und schluchzt. Bis sie keine Tränen mehr hat.

Es ist nicht die erste böse Botschaft an das zierliche blonde Mädchen. Selina ist ein Mobbingopfer. Jeder Gang in die Schule ist für sie wie ein Gang zur eigenen Hinrichtung. Hinter jedem Piepsen ihres Smartphones könnten neuer Spott, Beleidigungen und Drohungen stecken. Ihr Facebook-Profil hat Selina längst gelöscht. Niemand wollte etwas Nettes darauf posten, niemand hat etwas von dem Mädchen geliked. Stattdessen kamen Beleidigungen und Drohungen. «Opfer», «Zumutung», «hässliche Sau». Wenige Monate nach dem Vorfall mit dem Zettel sitzt Selina neben ihrer Mutter auf dem Sofa in einer Altbauwohnung im Gundeli. Selinas Mutter hat sich bei der BaZ gemeldet – im Auftrag ihrer Tochter. Die Eltern möchten, dass der Familienname nicht genannt und kein Foto gezeigt wird. Sie fürchten, dass das zu neuem Mobbing führen könnte. Doch Selina will ihre Geschichte erzählen. Möchte aufmerksam machen auf die seelischen und körperlichen Qualen, die sie seit Jahren erleidet.

Prügel, Einsamkeit und Urin
«Ich war nie sehr beliebt und so richtig schüchtern», beginnt sie. «Aber zu Beginn der Schule liessen mich die anderen immer mitspielen oder immerhin einfach in Ruhe. Ich fühlte mich wohl in der Klasse.» Doch dann kam ein neues Mädchen in die Klasse. «Die hatte es von Anfang an auf mich abgesehen.» Warum, das weiss Selina bis heute nicht. «Sie sagt, ich sei halt voll peinlich.» Schnell schaffte es die Neue, die Klasse gegen Selina aufzuhetzen. Der einen guten Freundin, die sie zu diesem Zeitpunkt hatte, wurde der Umgang mit der Ausgestossenen verboten. Sonst käme sie selber dran. Das Mädchen gehorchte und Selina ging von da an alleine zur Schule. Ass alleine ihr Znüni. «Berührte mich ein Mitschüler aus Versehen, riefen alle laut ‹igitt!›, spuckten aus und rieten demjenigen, sich zu desinfizieren.» Ein Mädchen brachte dafür Desinfektionsmittel von zu Hause mit. «Damit wischten sie auch Gegenstände ab, die ich in der Hand gehabt hatte, oder Stühle, auf denen ich sass.»

Die Lehrerin und Selinas Eltern ahnten da noch nichts von dem Mobbing. Das Mädchen gab sich alle Mühe, das Ganze geheim zu halten. «Um nicht auch noch als Petze gehasst zu werden. Und ich wollte meine Eltern nicht traurig machen.» Als diese einmal fragten, ob Selina denn nicht ans Geburtstagsfest einer Mitschülerin gehe, sagte sie «doch» und tat so, als ob – obwohl sie als Einzige nicht eingeladen war. Den Tag verbrachte Selina alleine auf einer Parkbank. Das Geschenk, das die Eltern für die Mitschülerin besorgt hatten, warf sie in einen Abfallkorb.

Mit der Zeit wurden die Attacken der anderen immer brutaler. Auf einer Schulreise nahmen sie ihr den Proviant weg, kippten den Tee aus und warfen die Brote in Hundekot. Selina schwieg. Als der Durst zu gross wurde, trank sie aus einem Brunnen, an dem die Gruppe vorbeikam.

Erst als die Spuren des Mobbings an einem kalten Wintertag auch äusserlich als blaue Flecken sichtbar wurden, fragten die Eltern nach. Da platzte alles aus Selina heraus. Das war vor zwei Jahren. Die Mädchen der Klasse hatten die Buben angestiftet, Selina auf dem Schulweg abzupassen und sie zu verprügeln. «Sie nahmen mir Schuhe, Handschuhe und Mütze weg. Einer pinkelte darauf», erzählt das Mädchen mit leiser Stimme und starrt auf den Boden. Dann drückten die Jungs ihr das Gesicht in die Sachen und traten auf sie ein.

Für Schulweg nicht zuständig
«Ich war schockiert und habe zuerst einfach mit ihr geweint», sagt die Mutter. Dann begann der Kampf. Die Eltern wandten sich an die Eltern der Rädelsführerin. «Doch die wollten nichts davon hören, sagten, Selina provoziere die Klasse doch dauernd durch ihr merkwürdiges Verhalten.» Der nächste Schritt war der Gang zur Lehrerin. Diese gab sich überrascht. In der Klasse herrsche eine sehr gute Stimmung und das Thema Mobbing werde immer wieder aufgegriffen. Was ausserhalb des Schulgeländes, also auch auf dem Schulweg geschehe, da sei sie ausserdem nicht zuständig. Weil Selinas Eltern auf Klärung und Besserung bestanden, folgten Gespräche mit der gesamten Klasse. Selina und die Rädelsführerin der Mobber mussten sich auf Stühlen in die Mitte setzen und über die Situation reden. «Alles, was ich da sagte über meine Hilflosigkeit und meine Trauer, äfften die anderen später auf dem Pausenplatz nach.»

«Dass ich lieber sterben sollte»
Schliesslich landete Selina beim Schulpsychologen, der mit ihr Gespräche führte. «Ich wusste nicht, wie mir das helfen sollte, ich war ja Opfer, nicht Täterin. Mit denen hätte man doch arbeiten müssen», sagt sie rückblickend. Das Mädchen selber sah zu diesem Zeitpunkt bereits einen Schulwechsel als einzigen Ausweg. Nach vielen Gesprächen der Eltern mit der Klassenlehrerin und der Schulleitung kam dann irgendwann die Botschaft: Selina darf die Klasse verlassen.

Sie ist nicht die Einzige. Jedes Jahr wechselt rund ein Dutzend Schüler der Volksschule Basel-Stadt die Schule aufgrund von Mobbing oder anderer Konflikte.

Selina ist jetzt an einer anderen Schule. «Feige Sau», war das Letzte, was ihre ehemaligen Mitschüler ihr mit auf den Weg gaben. In der neuen Klasse läuft es bisher gut. «Die anderen hier wissen nichts von der vorherigen Situation und sind mir offen begegnet. Ich wurde sogar in den Chat der Mitschüler aufgenommen, in dem sie Sachen abmachen und so», freut sie sich. Die Wunden des Mobbings sind aber keineswegs verheilt. Selina leidet nach wie vor an Schlafstörungen und Kopfschmerzattacken. Auch das Gefühl, störend und wertlos zu sein, kann sie nicht ablegen. «Vielleicht haben sie in der neuen Klasse nur noch nicht gemerkt, wie nervig ich bin und dass ich besser sterben sollte», sagt sie leise.
Am Ende des Gesprächs zieht Selina ein Sofakissen auf ihren Schoss und legt den Kopf darauf. «Das kommt gut», sagt die Mutter und streicht der Tochter über das feine Haar. Selina wischt sich eine Träne von der Wange und demonstriert nickend Zuversicht. Für ihre Mutter, sich selber, ihre Zukunft.


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