17. Oktober 2017

Realität des Bildungsgeschehens aus ideologischen Gründen ausgeblendet

Bildung ist in aller Munde. Es gibt kaum einen Begriff, der in unterschiedlichen Zusammensetzungen so universell eingesetzt werden kann wie der Begriff der Bildung. Bildungseinrichtungen, Bildungschancen, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsreformen, Bildungskatastrophen, Bildungsexperten, Bildungspolitiker, Bildungsverlierer, Bildungsgewinner und andere Bildungskombinierer beherrschen die Szene des Bildungsdiskurses, der rasche Wandel von Bildungskonzepten und Bildungsutopien ist längst zu einem prominenten Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden.

Bildung bedeutet Begabung zum Menschsein, NZZ, 16.10. von Konrad Paul Liessmann

Ob man Kindergärten als Bildungseinrichtungen verstehen soll, auf welchem Platz ein Land beim Pisa-Test landet, wozu die Umstellung des Unterrichts auf die Kompetenzorientierung führt, wie Bildungsdefizite von Migranten und sozial diskriminierten Menschen ausgeglichen werden können, welche Bildung für die Arbeitsplätze der Zukunft fit macht, wie man Begabungsreserven entdeckt und abschöpft, ob in der Digitalisierung der Bildung und der Ausstattung von Schulen mit Tablets das Heil zu suchen ist, ob die Rolle des Lehrers sich wandelt und in Zukunft Lernbegleiter, Coachs und Sozialexperten das Bildungsgeschehen dominieren werden, ob es überhaupt notwendig ist, im Informationszeitalter noch Wissen zu vermitteln – all diese Fragen, die beliebig vermehrt werden können, beschäftigen die Menschen in immer höherem Masse.

Gleichzeitig zeigen diese Fragen aber auch, dass der Begriff der Bildung selbst höchst unscharf geworden ist und schon lange keine Einigkeit mehr darüber herrscht, was man darunter eigentlich verstehen soll: Qualifikation, Kompetenztraining, Persönlichkeitsbildung, Orientierungsfähigkeit, Befähigung zur politischen Partizipation, Schulung von Verantwortung, Vermittlung von Werten oder doch auch noch Wissenserwerb: Bildung ist alles, und alles ist Bildung. Wenn etwas alles ist, ist es aber nichts. Bildung ist eine leere Begriffshülle geworden, die von jedem nach Belieben und je nach politischer oder ökonomischer Interessenlage gefüllt werden kann. Eine Besinnung auf die grundlegenden Bedeutungen von Bildung, ihre Ansprüche, aber auch ihre Grenzen täte dringend not.

Welche Bildungskrise?

Gespielt aber wird ein anderes Spiel. Zuerst wird aufgrund höchst zweifelhafter Kriterien und in der Regel plakativ verkürzter Testergebnisse eine Krise des Bildungssystems nach der anderen beschworen, um dann das Mantra der notwendigen Bildungsreform anzustimmen und dabei die gerade angesagten Moden zu propagieren. Erst jüngst verkündete das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» in einer Titelgeschichte, «wie Bildung endlich gelingt». Und wie gelingt sie: indem man auf Digitalisierung, Chancengleichheit, Inklusion, Ganztagsschule, gutes Essen und eine Lehrerausbildung setzt, die davon ausgeht, dass angehende Lehrer von dem Fach, das sie unterrichten, nicht unbedingt viel verstehen müssen, Hauptsache, sie sind sozial kompetent.
Niemandem fällt auf, dass es bei all diesen guten Ideen um alles Mögliche gehen mag – um Interessen der Internetkonzerne, um geschönte Statistiken, um sozialromantische Utopien und um beeindruckende Abiturnoten – aber nicht um Bildung. Und niemandem fällt auf, dass eine Reihe dieser Konzepte gegen jene empirischen Daten durchgesetzt werden sollen, die sonst eine evidenzbasierte Bildungspolitik gerne beschwört. Mit anderen Worten: Die Realität des Bildungsgeschehens wird aus ideologischen Gründen in der Regel ausgeblendet, über Bildung wird nur in Euphemismen gesprochen.
Dass Tablet- und Laptopklassen im Vergleich schlechter abschneiden als analog unterrichtete Kinder, wird ebenso ignoriert wie die gravierenden Probleme, die der Inklusionsimperativ für alle Beteiligten und Betroffenen geschaffen hat. Und dass die Lese- und Denkschwächen von Kindern und Jugendlichen auch mit einer verheerenden Erleichterungsdidaktik zu tun haben, die von der unseligen Rechtschreibreform bis zur «Leichten Sprache» alles tut, um Bildung als ein anspruchsloses Angebot für Anspruchslose zu installieren, sollte langsam ins allgemeine Bewusstsein rücken. Wer etwas für das Bildungswesen tun will, soll es mit solchen und ähnlichen Reformen verschonen.

Durch die Wende zur Kompetenzorientierung im Zuge des Pisa-Tests, die damit verbundene Reduktion von Bildung auf einige wenige «Kernkompetenzen» und die Hoffnung, dass die Digitalisierung schon alle sozialen und didaktischen Probleme des Unterrichts lösen werde, wurden all jene Dimensionen gekappt, die zur Idee einer allgemeinen Menschenbildung gehörten, die zwar schon von Wilhelm von Humboldt gefordert wurde, aber gerade heute wichtiger denn je erscheint. Zu dieser gehört nicht nur die Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken – die selbst noch gar keine Bildung, sondern eine ihrer Voraussetzungen darstellt –, sondern auch jene grundlegenden Kenntnisse und Fähigkeiten, auf die manche Bildungsreformer gerne verzichten möchten. All das, was lange den Kern allgemeiner Bildung ausmachte – Fremdsprachenkenntnisse, historisches Wissen, literarische und ästhetische Kenntnisse und Fähigkeiten, kulturelles und religiöses Wissen –, spielt bei Pisa keine Rolle. Wie beschränkt muss man selbst schon sein, um den Pisa-Test als Indikator für den Zustand von Bildung zu akzeptieren?
Kompetenzorientierung und Digitalisierung sollen angeblich fit machen für die Arbeitsplätze der Zukunft. Abgesehen davon, dass Bildung nie eindimensional auf die Erfordernisse der Ökonomie bezogen werden darf, stimmt dieser Ansatz überhaupt nicht. Wer nur Kompetenzen schulen möchte, vergisst, dass diese nie Ziel, nur Mittel sein können, um sich ebenjene Kenntnisse anzueignen und mit jenen Fragen auseinanderzusetzen, die unsere Kultur in all ihren Spannungen charakterisieren und in Zukunft bestimmen werden. Schon Hegel wusste, dass der Geist junger Menschen, der frei und neugierig ist, einen Stoff benötigt, an dem er sich nähren, schärfen, entzünden, wachsen und abarbeiten kann. Über diesen Stoff, also um die Frage, was gelernt und vermittelt werden soll, sollte es vorrangig in Bildungsdebatten gehen, und nicht nur um die Frage, in welcher Organisationsform, sozialen Zusammensetzung, mit welchen Chancen und mit welchen digitalen Hilfsmitteln gelernt oder auch nicht gelernt wird.

Befindlichkeitspädagogik

Illustrieren liesse sich dies am gegenwärtigen Hype um die Digitalisierung der Bildung. Neben all den wichtigen lernpsychologischen Einwänden gegen einen zu frühen Einsatz digitaler Geräte im Unterricht, neben dem ebenso wichtigen Hinweis, dass der zu Recht geforderte kritische Umgang mit Internet, sozialen Netzwerken und digitaler Lebenswelt eine Distanz zur Voraussetzung hat, die ihr Fundament in der analogen Welt haben muss, spricht vor allem eines gegen die These, dass die Digitalisierung des Unterrichts auf die neue Arbeitswelt vorbereitete: Digitalisierung bedeutet, alles zu automatisieren, was automatisiert werden kann, alles zu vernetzen, was vernetzt werden kann.
Wohl werden für die Pflege dieser Technologien immer eine Handvoll Techniker und Experten gebraucht werden, auf den Arbeitsmärkten der Zukunft werden aber jene jungen Menschen die besten Chancen haben, die Kenntnisse und Fähigkeiten aufweisen, die entweder nicht digitalisiert werden können oder die Digitalisierung kritisch und reflektierend begleiten. Ein avanciertes Konzept der klassischen Bildung wäre dazu nicht der schlechteste Ansatz.

Man muss der Idee von Bildung nicht zutrauen, alle Probleme dieser Welt zu lösen. Bildung ist kein säkularer Ersatz für die Heilsversprechen der Religionen, auch wenn der Gestus des Erlösers von Bildungsexperten gerne in Anspruch genommen wird. Aber Bildung ist auch nicht auf Qualifikationsmassnahmen, Zertifizierungsverfahren, künstliche Wettbewerbe, Chancenverteilung, Steigerung von Absolventenzahlen um jeden Preis und hemmungslose Produktion von Kompetenzen zu reduzieren. Bildung hat mit der Entwicklung von Persönlichkeiten zu tun, sie hat mit der Vermittlung jener geistigen Fundamente zu tun, auf denen unsere Zivilisation aufbaut, und sie hat mit jenen Kenntnissen, Techniken und Fähigkeiten zu tun, die schlechterdings notwendig sind, um sich in dieser Gesellschaft zu orientieren und sich als selbstbewusster und mündiger Bürger zu behaupten.

Anleitung zur Mündigkeit

Bildung hat deshalb immer auch mit dem Sichabarbeiten an Normen und Standards zu tun, zu dem durchaus die Auseinandersetzung mit kanonischen Werken, Texten und Theorien gehört. Der Leistungsgedanke kann deshalb ruhig wieder ein wenig reaktiviert werden, Ziele dürfen vorgegeben und Wissen abgeprüft werden – und zwar nicht, um irgendwelchen Test- oder Kompetenzüberprüfungs-Kriterien zu genügen, sondern weil es die Logik einer Sache, der Anspruch eines Inhalts, die Struktur eines Gegenstandes verlangen. Wem es um die Sache der Bildung geht, der muss gleichermassen vom Gedanken künstlicher Wettbewerbe und einer haltlosen Befindlichkeitspädagogik Abstand nehmen.

Alle Kenntnisse, alle Fähigkeiten, die im Zuge eines Bildungsprozesses angeeignet, erworben, geübt und weiterentwickelt werden, dienen nicht nur der Eingliederung eines Menschen in eine vorgegebene Welt, sondern sind auch Vorbedingung für die Formung einer mündigen Person. Letztlich bleibt Bildung, nach einem Wort des zu Unrecht vergessenen kritischen Pädagogen Heinz-Joachim Heydorn, der «Versuch, den Menschen zum Menschen zu begaben», ein Versuch, der gegen alle Formen des Trainings, der Qualifikation und Talentpflege das unverstellte Menschsein im Auge hat, ein Versuch, von dem nicht gesagt werden kann, ob er überhaupt gelingen kann. Aber es ist der einzige Versuch, der einen Versuch wert ist.

Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Soeben ist beim Wiener Zsolnay-Verlag der Band erschienen: «Bildung als Provokation». Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung seines Referats am NZZ-Podium Berlin vom 4. 10. 17 zum Thema «Bildung».




1 Kommentar:

  1. An alle Bildungspolitiker, Bildungsverwalter und Bildungsplaner: "Die Realität des Bildungsgeschehens wird aus ideologischen Gründen in der Regel ausgeblendet, über Bildung wird nur in Euphemismen gesprochen.
    Dass Tablet- und Laptopklassen im Vergleich schlechter abschneiden als analog unterrichtete Kinder, wird ebenso ignoriert wie die gravierenden Probleme, die der Inklusionsimperativ für alle Beteiligten und Betroffenen geschaffen hat. Und dass die Lese- und Denkschwächen von Kindern und Jugendlichen auch mit einer verheerenden Erleichterungsdidaktik zu tun haben, die von der unseligen Rechtschreibreform bis zur «Leichten Sprache» alles tut, um Bildung als ein anspruchsloses Angebot für Anspruchslose zu installieren, sollte langsam ins allgemeine Bewusstsein rücken. Wer etwas für das Bildungswesen tun will, soll es mit solchen und ähnlichen Reformen verschonen."

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