12. Oktober 2017

Schulwechsel bei Mobbing belohnt die Täter

Ein Mädchen wird in einer Klasse jahrelang gemobbt. Experte Christof Nägele erklärt das Phänomen.
«Die Schulen sind stark in der Verantwortung», Basler Zeitung, 12.10. Von Nina Jecker



BaZ: Herr Nägele, die BaZ hat den Fall der Schülerin Selina publik gemacht, die ausgegrenzt, verspottet und geschlagen wurde. Ein typischer Fall?
Christof Nägele: Ich kenne den Fall nur aus der Presse. Typisch ist daran jedoch, dass die Schülerin lange alles in sich hineinfrass. Die wenigsten Opfer sprechen über das, was sie täglich erleben. Eltern und Lehrpersonen sind oft die Letzten, die merken, dass ein Kind gemobbt wird.

Dann ist es also glaubhaft, dass die Lehrerin von den Attacken gegen eine Schülerin nichts gemerkt haben will?
Dazu kann ich nichts sagen. Es ist aber durchaus möglich, dass auch Lehrpersonen, die für Mobbing sensibilisiert sind und darauf achten, bei einem aktuellen Mobbing-Vorfall zuerst nichts merken. Mobbing besteht ja aus kleinen, oft geringfügig erscheinenden, aggressiven Handlungen.

Welcher Art?
Zum Beispiel, wenn ein Kind einem anderen etwas wegnimmt – und sei es nur eine Kleinigkeit wie zum Beispiel ein Radiergummi.

Gummi-Klau alleine ist aber noch kein Mobbing.
Sicher nicht als einzelner Vorfall. Aber Mobbing setzt sich aus einer Häufung vermeintlich kleiner Verletzungen zusammen, die sich wiederholen und immer gegen dasselbe Kind gerichtet sind. Mobbing ist ein Muster von Handlungen, die ein anderes Kind verletzen. Es ist also wichtig, eine Kultur zu schaffen, in der diese gemeinen, verletzenden und aggressiven Handlungen keinen Platz haben. In diesem Sinne sollte nicht toleriert werden, dass einem anderen Kind etwas weggenommen wird – und sei es auch «nur» der Radiergummi. Wir sollten nicht erst aufmerksam werden, wenn die Attacken brutaler werden. Es beginnt früher und betrifft unsere Haltungen gegenüber der Art und Weise, wie wir mit anderen Menschen umgehen. Hier sind Lehrpersonen und Schulen ganz stark in der Verantwortung, ein Klima zu schaffen, das solche Vorfälle nicht toleriert.

Kann dies potenzielle Täter tatsächlich davon abhalten?
Ja. Täter oder Täterinnen profitieren, wenn Erwachsene wegschauen. Und Mobbing ist kein Täter-Opfer-, sondern ein Klassenphänomen, in dem die Mitschülerinnen, Mitschüler und Lehrpersonen eine wichtige Rolle spielen. Hat die Klasse Regeln aufgestellt, wie man miteinander umgehen soll, und vereinbart, wie auf Regelverletzungen reagiert wird, hat Mobbing wenig Chancen.

Ist Mobbing ein neues Phänomen?
Keineswegs. Nur die systematische Forschung zu Mobbing oder Bullying, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit einigen Jahrzehnten. Täter oder Täterinnen, die ihre Opfer fertigmachen – was bereits ab einem Alter von drei, vier Jahren beobachtet werden kann –, gab es schon immer.

Wer wird überhaupt zum Täter?
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ich möchte es kurz so sagen: Mobber haben gelernt, dass sie mit verletzendem Verhalten Ziele erreichen können. Vielen Mobbern hilft, dass sie sich schlechter vorstellen können, dass ihr Verhalten andere Kinder verletzt. Aber die Täter und Täterinnen sind nicht einfach die bösen Kinder.

Was macht am Quälen so viel Spass?
Es geht um Status und Macht und um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Und auch darum, wer bestimmen darf, wer in welcher Rolle zu einer Gruppe gehört – oder eben nicht. Da kann es durchaus zielführend erscheinen, dies über die Erniedrigung einer anderen Person zu erreichen; wenn es die Gruppe zulässt oder gar unterstützt. Und wenn ich als Mobber in der Klasse einen herablassenden Spruch zum Opfer mache und alle lachen mit, auch die Lehrperson, dann ist das doch eine positive Rückmeldung an den Mobber oder die Mobberin.

Komisches Verhalten, Schüchternheit, Strebertum – wie suchen sich Mobber ihre Opfer aus?
Grundsätzlich kann jedes Kind Mobbingopfer werden. Oft werden Mobbingopfer als Kinder mit einem eher geringen Selbstvertrauen, mit mehr Mühe, sich abzugrenzen, oder als empathischer und offener beschrieben. Aber das geringe Selbstvertrauen kann auch eine Folge von Mobbing sein, und empathische und offene Kinder gibt es hoffentlich viele in einer Klasse. In einer Klasse besonders gefährdete Kinder identifizieren zu wollen erachte ich als wenig sinnvoll. Wichtiger ist, eine grundlegende Haltung zu entwickeln, dass in der Klasse kein Kind gemobbt wird.

Welche Rolle spielen die Mitläufer und Zuschauer?
Eine sehr grosse. Mobbing ist ein Gruppenphänomen. Deshalb ist es in der Prävention von Mobbing so wichtig, mit der ganzen Gruppe respektive Klasse zu arbeiten. So kann dann zum Beispiel ein guter Freund oder eine gute Freundin ein Opfer gut unterstützen.

Was können Eltern und Lehrer tun, damit das Mobbing aufhört?
Da Mobbing ein Gruppenphänomen ist, scheint es mir wichtig und sinnvoll, dass Eltern und Lehrpersonen zusammenarbeiten. Und Lehrpersonen sollten bei einem aktuellen Mobbing-Vorfall nicht zögern, die ihnen zur Verfügung stehende Unterstützung anzufordern, etwa den schulpsychologischen Dienst. Auf jeden Fall muss Mobbing aber ernst genommen werden und darf nicht heruntergespielt werden.

Wie geht ein externer Experte vor?
Bei einem aktuellen Mobbing-Vorfall hängt das sehr stark davon ab, wie die Schule sich bisher mit dem Thema beschäftigt hat. Beim Umgang mit Mobbing scheint es mir aber wichtig, nicht zurückzublicken und Schuldige zu suchen. Es geht darum, zu sagen: «Wir haben ein Problem mit Mobbing, das wollen wir nicht mehr und stellen deshalb Regeln auf, wie wir in Zukunft miteinander umgehen.» Es geht um die Arbeit an der Haltung zu Mobbing.

Das hat Erfolg?
Durchaus. Es funktioniert aber nicht von heute auf morgen, sondern braucht mehrere Gespräche und zum Beispiel in der Arbeit mit der Klasse Rollenspiele und andere Interventionen.

Selina hat schliesslich die Schule gewechselt. Eine gute Lösung?
In den meisten Fällen nicht. Obwohl ich Eltern verstehen kann, die ihr Kind nur noch da rausnehmen wollen. Doch den Täterinnen und Tätern signalisiert das, dass sie mit ihrem Verhalten das gemobbte Kind sogar aus der Klasse entfernen konnten. Das ist fast schon eine Anerkennung und Belohnung. Dem Opfer sagt es hingegen, dass es der Störfaktor in der Klasse war. Viel besser ist, wie oben beschrieben, mit der Klasse und der Schule so zu arbeiten, dass sich alle wieder in der Klasse wohlfühlen – was fast immer möglich ist, wenn Lehrpersonen, Schulleitung und Eltern die Sache ernst nehmen.

Wenn das Mobbing bestehen bleibt – was hat das für Konsequenzen für die Betroffenen?
Mobbing verletzt eine Person immer wieder und in der Schule leiden das Lernen und die Entwicklung. Selbst wenn Mobbing aufhört, leiden viele Opfer noch Jahre später unter den Folgen. Es wurde ihnen ja auch immer wieder gesagt, dass sie weniger wert sind als die anderen. Deshalb ist die Mobbing-Prävention so wichtig und auch, dass man sehr aufmerksam zuhört, wenn jemand sagt, er oder sie werde gemobbt.

Christof Nägele ist Projektleiter an der Fachhochschule Nordwestschweiz im Zentrum Lernen und Sozialisation.


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