12. Dezember 2017

Gewerkschaft fordert mehr Unterstützung für integrative Schule

Wilde Kinder, ruhige Kinder, laute Kinder, stille Kinder, behinderte Kinder: Sie alle werden heute in derselben Schulklasse unterrichtet. Seit gut 13 Jahren ist das so oder spätestens seit 2010, seit beim Basler Beitritt zum Sonderpädagogik-Konkordat die Klein- und Sonderklassen Schritt für Schritt abgeschafft wurden.
Als das Erziehungsdepartement (ED) unter alt Regierungsrat Christoph Eymann (LDP) die Umsetzung der integrativen Schule ankündigte, beschlich die Lehrerschaft ein ungutes Gefühl. Die komplette Integration von verhaltensauffälligen Kindern werde einen Zusatzaufwand mit sich bringen, dem sie nicht gewachsen seien, prophezeite ein Teil der Pädagogen damals mit tatkräftiger Unterstützung des Verbands des Personals der öffentlichen Dienste (VPOD).
Das Leiden der Lehrer, Basler Zeitung, 12.11. von Serkan Abrecht


Doch hatte die Einführung der integrativen Schule und die Abschaffung der Kleinklassen tatsächlich einen negativen Einfluss auf den Alltag der Pädagogen? Schweizweit schweigen die Erziehungsdirektionen zu diesem Thema. Öffentlicher Diskurs findet kaum mehr statt. Eine Umfrage der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik bringt nun etwas Licht ins Dunkel – und sorgt für Gesprächsstoff.

Fehlende Unterstützung
Die Schule hat bei ihrer Umfrage 27 Klassen aus den Kantonen Zürich, St. Gallen und Schwyz befragt. Die Klassen meldeten sich alle freiwillig, was die Studie nicht repräsentativ macht. Doch ihre Resultate lassen aufhorchen. Gemäss dem Tages-Anzeiger, dem die Studie vorliegt, erfüllt von 429 Kindern ein Drittel der nicht-förderbedürftigen und zwei Drittel der förderbedürftigen Schüler in Leistungstests das Minimalniveau in Mathematik und Deutsch nicht. Das heisst, dass auch die «normalen» Kinder in ihrer Leistung abfallen.
Während die befragten Kinder angaben, in ihren Klassen glücklich zu sein, reklamierten fast 70 Prozent der Lehrkräfte, dass ihnen die notwendigen Ressourcen für die angemessene Unterstützung der Kinder nicht zur Verfügung stünden. Grund für die Unzufriedenheit der Pädagogen: Es fehle an den notwendigen Heilpädagogen, welche die Lehrer bei der Betreuung der förderungsbedürftigen Kinder unterstützen. Vor diesem Missstand fürchteten sich damals auch die Basler Lehrkräfte.

«In Basel haben wir mindestens den gleichen Prozentwert an überforderten Lehrkräften wie in den drei befragten Kantonen», sagt alt Grossrätin Heidi Mück (BastA!). Sie kämpfte ab 2010 an vorderster Front gegen die Abschaffung der Klein- und Sonderklassen. Mück unterrichtete selber in Kleinklassen und war Bildungssekretärin im VPOD. «Seit der Abschaffung der Kleinklassen in Basel hatten wir sehr viele Beschwerden von Lehrkräften, die aufgrund der integrativen Massnahmen in ihrem Job überlastet sind. Ich gehe deshalb davon aus, dass in Basel die gleichen Zustände wie in Zürich, St. Gallen und Schwyz herrschen», sagt Mück.

Gewerkschaft will Entlastung
Dass die hiesigen Lehrkräfte tatsächlich zu wenig Unterstützung erhalten, sagt auch Kerstin Wenk (SP). Sie ist Mücks Nachfolgerin als Bildungssekretärin des VPOD. «Es fehlt an konstanter Unterstützung für die Lehrkräfte; zum Beispiel durch die Heilpädagogen oder andere Massnahmen», sagt Wenk. Heutzutage müssten die Lehrpersonen auf die Schülerinnen und Schüler individuell eingehen, sie unterschiedlich fördern und schauen, dass alle ihre Lernziele erreichen, was diese zusätzlich belaste. «Auch die zunehmenden Klassengrössen in den Basler Schulhäusern machen den Alltag für die Lehrer nicht einfacher», so Wenk.

Ihre und Mücks Aussagen bestätigen auch Lehrkräfte, mit denen die BaZ gesprochen hat. Da das Erziehungsdepartement (ED) aktiv versucht, seinem Lehrpersonal zu verbieten, mit der Presse zu sprechen – diverse Beispiele aus Basler Primarschulhäusern in den vergangenen Wochen unterstreichen diese Haltung – möchten sie anonym bleiben. Unabhängig voneinander zeichnen die Lehrkräfte dasselbe Bild: Ein chronischer Mangel an Heilpädagogen führe zu stetiger Überbelastung.

«Ich hatte beispielsweise eine Klasse mit drei besonders verhaltensauffälligen Kindern, die den Schulunterricht derart störten, dass sie die Leistung der anderen Schüler beeinflussten. Eigentlich hätte ich für diese Schüler einen Heilpädagogen gebraucht, der mir bei der Betreuung hilft», erklärt ein Lehrer.

Da in seinem Schulhaus aber zu wenig Heilpädagogen vorhanden waren, konnte der Beauftragte in seiner Klasse nur knapp zwei Stunden pro Woche anwesend sein. Eine Kollegin von ihm hätte dasselbe Problem gehabt, es der Schulleitung gemeldet und um mehr Unterstützung gebeten. Geschehen sei nichts. «Ein Jahr später war meine Kollegin mit einem Burn-out krankgeschrieben.»

Der VPOD werde sich wegen solcher Fälle mit dem Thema Klassengrössen, Teamteaching und weiteren Formen der Entlastung befassen, kündigt Kerstin Wenk an. «Wir brauchen dringendst Entlastungsmassnahmen für die Basler Lehrkräfte.»

Der ehemalige Erziehungsdirektor und Nationalrat Christoph Eymann (LDP) unterstreicht, dass man zwingend an der integrativen Schule festhalten müsse. «Für die Lehrer muss der aufgebrachte Aufwand aber auch leistbar sein. Sollte dies nicht der Fall sein, braucht es Massnahmen. Sei es eine Verkleinerung von betroffenen Klassen oder zusätzliches, pädagogisches Personal für die Betreuung der Kinder.»

Keine Kleinklassen
Auf Anfrage beim Erziehungsdepartement (ED) meldet sich Volksschulleiter Dieter Baur. Er konstatiert, dass das ED weiterhin «separative Angebote» in Form von «Spezialangeboten» bereitstellen würde. Im Gegensatz zu den Kleinklassen seien diese jedoch nur temporär. Weiter sagt Baur, dass man keine Studie zum Unterrichtseinfluss von verhaltensauffälligen Kindern durchgeführt habe und dies auch nicht tun werde. Grund: «Das wäre methodisch sehr fragwürdig. Verhaltensauffälligkeit ist keine Diagnose, sondern eine Folge verschiedenster Ursachen, die schwer messbar sind.» Dass die integrative Schule sein Lehrpersonal strapaziert, wisse er.

Man habe über die Zeit diverse Beschwerden erhalten. «Doch das hat es schon immer gegeben», sagt der Volksschulleiter. «Das ist ein belastendes Thema, dem wir grosse Aufmerksamkeit widmen und für dessen Bewältigung wir auch sehr viele Ressourcen bereitstellen.» Jedoch sollten solche Probleme in den teilautonomen Schulen vor Ort gelöst werden. Von einer Wiedereinführung der Sonder- und Kleinklassen will das ED nichts wissen.


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