14. Februar 2018

Fehlende Lehrmittel und inkonsequente Bewertung


Unabhängig davon, wie sich die Zürcher Stimmbürger am 4. März hinsichtlich Mitsprache in Lehrplanfragen entscheiden: Der neue Bildungskompass wird nach den Sommerferien eingeführt.
Zürich macht sich für den Lehrplan 21 fit, NZZ, 14.2. von Lena Schenkel


Es ist ein dicker weisser Ordner, der bei Nora Bussmann auf dem Pult liegt: 516 Seiten, bedruckt mit Tabellen in allerlei Farben und Formen. «Lehrplan 21» steht auf dem Rücken. Dass die Schulleiterin der Primarschule Im Birch in Zürich Oerlikon ihn ausgedruckt hat, ist nicht selbstverständlich. Nicht nur, weil er bloss noch elektronisch vorliegt. «Den Lehrplan behandelt man in der Ausbildung», sagt die gelernte Primarlehrerin, «danach bleibt er meist im Regal.» Wichtiger seien die daraus erarbeiteten Lehrmittel, die Mathematik- oder Französischbücher, mit denen die Lehrer ihren Unterricht hauptsächlich gestalteten.

Pädagogisch sinnvoll
Bussmann ist an ihrer Schule federführend für die Umsetzung des neuen Lehrplans, der im Kanton Zürich nach den Sommerferien eingeführt wird. «Es wird nicht alles anders», sagt sie in Hinblick auf die Neuerungen. Lediglich die Perspektive habe sich ein wenig verändert. Die Lernziele nach Kompetenzen der Schüler auszurichten, entspreche in der Aus- und Weiterbildung aber längst dem Standard. Dass Lehrer laut Gegnern des Lehrplans 21 zu «Coachs» degradiert würden, empfindet sie nicht so. Es entspreche einem modernen Verständnis, dass der Unterricht nicht mehr derart lehrerzentriert sei; dass Schüler ihre Lernwege vermehrt selber gehen, sei pädagogisch sinnvoll.

«Das schliesst Frontalunterricht ja nicht aus», sagt sie; die Ausbilder seien weiterhin frei in der Wahl ihrer Methoden. Die Lehrer dennoch gemeinsam auf Kurs zu bringen, ist die Aufgabe Bussmanns. Inhaltliche Überzeugungsarbeit muss sie dafür nicht leisten: «In meinem Team trauert niemand dem alten Lehrplan nach.» Für die Unterrichtsplanung sei dieser von geringem Nutzen gewesen. Nachdem Bussmann letzten Sommer wie alle Schulleiter im Kanton einen Weiterbildungstag besuchte, sind nun die Lehrerinnen und Lehrer dran. Neben individuellen Kursen schenkt der Kanton jeder Schule insgesamt drei interne, unterrichtsfreie Weiterbildungstage und einen an der Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH), um sich in Themen wie Beurteilung oder kompetenzorientierten Unterricht zu vertiefen – sofern sie zuvor selbstorganisiert entsprechende Online-Einheiten bearbeitet haben.

Bereits hätten sich 80 Prozent aller Schulen dafür angemeldet, sagt PHZH-Rektor Heinz Rhyn auf Anfrage. Es ist eines von derzeit 17 Angeboten, welche die Hochschule rund um den Lehrplan 21 bietet – von der Informationsveranstaltung über punktuelle stundenweise Unterstützung bis zu mehrtägigen Kursen, die wiederum durch Selbststudium ergänzt werden. Der Kanton bezahlt den teilnehmenden Lehrern sechs davon. So können etwa Haushaltskunde-Lehrer kostenlos ihre Kenntnisse auffrischen, damit sie für das Unterrichten des neuen Fachs Wirtschaft, Arbeit, Haushalt gewappnet sind. Jene, die Religion und Kultur unterrichten, können ihr Ethik-Wissen vertiefen.

Um den Ansturm auf die Weiterbildungen abzufedern, beschäftigt die PHZH während anderthalb Jahren bis zu vier Personen zusätzlich. Insgesamt aber würden die Ressourcen vor allem anders verteilt. Den Vorwurf, von einem neuen Lehrplan profitiere in erster Linie die Bildungsindustrie, lässt Rektor Rhyn deswegen nicht gelten: «Wir leisten eher mehr mit denselben Mitteln», sagt er. Obwohl seine Hochschule dabei durchaus an Grenzen stosse, sei es ihm aus seiner Sicht lieber, dass die Einführung zügig über die Bühne gehe.
Trotzdem mussten etwa die Ausbildungsplätze für das neue Fach Medien und Informatik kontingentiert werden: in der Regel auf ein oder zwei Lehrer pro Schulhaus und Jahr. Bis zum Sommer werden rund 600 Ausbilder den Kurs absolviert haben. Einige, bisher 44, erhalten die Unterrichtsberechtigung ohne Kurs; weil sie eine entsprechende Vorbildung haben. Alle erhielten bereits Auszüge aus dem neuen Lehrmittel «Connected», das laut Rhyn im Juni vorliegen soll.

«Das glaube ich erst, wenn ich es in den Händen halte», sagt darauf Primarlehrerin Katrin Meier, die im Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) der Sektion Lehrberufe vorsteht. Die meisten Lehrer könnten sich wohl erst in den Sommerferien vorbereiten. Für Ethik fehle das Lehrmittel ganz – noch bis 2020. Nicht ideal findet sie überdies, dass viele Schüler während der Übergangszeit von einem zusätzlichen Lehrer im neuen Fach Medien und Informatik unterrichtet werden müssen. Einerseits liessen sich viele Inhalte sinnvollerweise auch in anderen Fächern unterbringen, andererseits sei es pädagogischer Konsens, dass möglichst wenige Lehrer an einer Klasse unterrichteten.

Ein Hauch von Harmonisierung
Meier versuchte erfolglos, die Einführung des neuen Lehrplans mit einer Einzelinitiative im Kantonsrat zu stoppen. Nicht weil sie inhaltlich dagegen gewesen wäre – im Gegenteil: Sie findet, er werde übereilt und dadurch zu wenig konsequent umgesetzt. So müssten Lehrer ihrer Meinung nach auch im Zeugnis Kompetenzen beurteilen, statt Noten zu vergeben: «Würden diese zum Beispiel als Linie oder Karte gezeigt», erklärt sie, «bewegten sich selbst schwache Schüler immer vorwärts.» Das sei motivierender als eine ungenügende Note. Und für Arbeitgeber sei es statt einer 4,5 in Mathematik sinnvoller zu wissen, dass ein potenzieller Lehrling gut im Kopfrechnen, aber schlecht in Geometrie sei.

In dieselbe Kerbe schlägt der Zürcher Lehrerverband: Nicht nur seien die Zeugnisse nicht kompetenzorientiert – sie seien auch nicht harmonisiert; ebenso wenig wie die kantonalen Stundentafeln. «Wir spüren erst einen Hauch von Harmonisierung», sagt Präsident Christian Hugi. Gleichwohl versteht er, dass man den Lehrplan angesichts des immer noch schwelenden Widerstands nicht unnötig überladen und damit gefährden wollte. Vielleicht habe die kantonale Volksinitiative sogar zum überhöhten Tempo geführt.

Schulleiterin Bussmann beschäftigen derweil konkretere Probleme: Weit mehr als der Lehrplan stellt sie die neue Stundentafel vor organisatorische Herausforderungen. Weil sich die Lektionenzahl innerhalb derselben Stufe neu stärker unterscheidet, schwanken auch die Pensen von Lehrern von Schuljahr zu Schuljahr. Zum Glück seien ihre Kollegen sehr flexibel. Bussmann hilft nach, indem sie die betroffenen Ausbilder in anderen Bereichen einsetzt. Immerhin dafür biete der neue Berufsauftrag, mit dem Schulen Lehrer nicht mehr nach Lektionen, sondern nach Beschäftigungsgrad anstellen, Vorteile. Generell sorge dieser aber für weit mehr Unruhe in den Lehrerzimmern als der neue Lehrplan.

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