14. Februar 2018

Zum Tod von Alfred Gilgen


Er wird vielen in klarer Erinnerung bleiben: scharfe Gesichtszüge, eher klein, schlagfertig, sarkastisch, gelegentlich mit Schalk in Augen- und Mundwinkel, ein guter Zuhörer, dank genauer Dossierkenntnis höchst präsent, unerschrocken, verfemt, kontrollierend und kontrolliert, Brissago rauchend, unabhängiger, als in späteren Jahren seinem Landesring der Unabhängigen lieb war. Alfred Gilgen war volle 24 Jahre, von 1971 bis 1995, Zürcher Regierungsrat und Chef der Erziehungsdirektion. In die sechs Amtsperioden fielen eine starke Expansion vor allem der Mittelschulen und der Universität, etliche Reformen, zwei wirtschaftliche Krisen mit Sparzwängen und -diskussionen als Folge, aber auch Wechsel der politischen und der bildungspolitischen Konjunktur von der «68er»-Welle über eine Phase der Ernüchterung bis zur aufkommenden Kritik an sozialstaatlichen Mustern.
Alfred Gilgens Image wurde stark durch seine ersten Jahre in der Regierung geprägt, die markant begonnen hatten: Wenige Tage nach der – wegen militärischer Pflichten verschobenen – Amtsübernahme liess er im Einvernehmen mit dem Rektor die zentralen Universitätsgebäude vorübergehend schliessen, die eine Gruppe von Studierenden ohne deklarierte Verantwortliche mit einer «antikapitalistischen und antifaschistischen Informationswoche» zunehmend in Beschlag genommen hatte.
Alfred Gilgen anlässlich des Schweizer Schulsporttags im Juni 1995, Bild: Keystone
Ein Politiker mit Prinzipien und Humor, NZZ, 14.2. von ChristophWehrli


Konflikten nie ausgewichen

Die Rolle des starken Ordnungshüters im Bildungswesen hatte sich nur teilweise abgezeichnet. Alfred Gilgen, 1930 geboren, Stadtzürcher aus eher bescheidenen Verhältnissen, studierte Medizin und leitete nach einem Amerika-Jahr ab 1962 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem ETH-Institut die Arbeitsgruppe für Umwelthygiene. Gesundheitspolitische Fragen bildeten auch den Schwerpunkt seiner Tätigkeit im Kantonsrat ab 1959. Die Erziehungsdirektion fiel dem 1971 neugewählten Regierungsmitglied zu, da deren bisheriger Chef, Walter König, der gleichen Partei angehörig, zurückgetreten war und der Gesundheitsdirektor das Ressort nicht zu wechseln wünschte.

Dem Landesring war Gilgen beigetreten, weil er dort, wie verschiedene andere Persönlichkeiten auch, ausserhalb traditioneller politischer Milieus und Ideologien Freiraum erwarten konnte. Aber auch seine Grundhaltung, das Eintreten für Leistung und zugleich für soziale Verantwortung, passte dort hinein. Die von Gottlieb Duttweiler gegründete Partei erreichte in den modernisierungsfreudigen 1960er Jahren ihren Höhepunkt, hatte 1971 im Zürcher Kantonsrat immerhin noch 27 Sitze, schrumpfte dann aber kontinuierlich bis zur Auflösung 1999. Ein zuletzt forcierter grüner Anstrich beschleunigte die Entfremdung zwischen der Partei und ihrem Regierungsrat, und nachdem sie 1991 einen anderen Kandidaten aufgestellt hatte, trat Gilgen aus. Er wurde stets ohne Allianz, wenn auch meistens auf dem letzten Platz, gewählt. – Noch ein weiterer Faktor bestimmte offenkundig die Haltung des Politikers: die Armee, in der er bis zum Generalstabsobersten aufstieg. Sein ziviler Führungsstil wurde zwar als modern und kooperativ bezeichnet, doch nicht zuletzt der «Dienstweg» war ihm auch im Bildungswesen wichtig, und im Wahrnehmen seiner Verantwortung war er konsequent.

Was von «Achtundsechzigern» als Repressionskampagne hingestellt wurde, verstand Gilgen als Verhinderung der politischen Instrumentalisierung staatlicher Bildungseinrichtungen. Er schritt ein, wenn sich Ansätze zu einer «Gegenuniversität» zeigten und als nach dem Opernhauskrawall 1980 Ethnologen mit Videoaufnahmen die Stimmung anheizten. Er wollte niemanden als Lehrkraft anstellen, der eine Umgestaltung des Staats mit illegalen Mitteln im Sinn hatte, und dies galt auch für «politische» Militärdienstverweigerer. Ob diese an sich verständlichen Grundsätze genügend transparent und mit Augenmass angewandt würden, war schon damals fraglich. Dem Erziehungsdirektor selber sind eher wenige Fälle zuzurechnen. Doch von betroffenen Kreisen propagandistisch hochgespielt trugen sie zu einem Feindbild bei, das für gespannte Verhältnisse und übertriebenes Misstrauen sorgte.

Für Gilgen kam es nicht infrage, wenigstens aus Opportunitätsgründen die kleinsten Fische durchs Netz zu lassen oder wegen der Sonderstellung der Kultur bei der Zusprache kantonaler Auszeichnungen an politisch engagierte Filmemacher und Autoren Versöhnlichkeit und Toleranz zu demonstrieren. Er versuchte aber auch kaum je, in populistischer Weise, mit pauschaler Polemik, Kapital aus solchen Auseinandersetzungen oder Konfrontationen zu schlagen, von denen er natürlich beteuerte, er habe sie nie gesucht, weiche ihnen indessen nie aus. Wenn ihm ein parlamentarischer Vorstoss unnötig zu sein schien, stellte er sich ohne taktische Rücksichten dagegen, zum Beispiel weil ein weiterer Altersbericht nichts anderes wäre, «als dass man aus Sekundärliteratur jetzt Tertiärliteratur herstellt».

Gerade auch angesichts der Kritik an seinen «repressiven» Massnahmen verwies Gilgen immer wieder auf den Rückhalt, den es für die kostspielige Universität im Kantonsrat und im Volk zu sichern gelte. Dass er die Dinge generell im Griff hatte, sich beispielsweise auch intensiv und kritisch mit Berufungsgeschäften befasste, dürfte der Universität letztlich zugutegekommen sein. Die Zahl der Professoren wurde, gesamthaft ungefähr entsprechend der Zahl der Studenten, verdoppelt, und es wurden mehrere bedeutende Neubauten realisiert. In einem Nichteintretensentscheid des Kantonsrats endete hingegen 1976 der erste Versuch, ein Universitätsgesetz zu schaffen. Der aus langen Vorarbeiten und Diskussionen hervorgegangene Entwurf, der unter anderem einen Universitätsrat und erhebliche Mitbestimmungsrechte von Studierenden und anderen Gruppen vorsah, stiess rechts und links auf Widerstand. So blieben kleinere Schritte, speziell die Stärkung des Rektorats. Gegen Ende seiner Amtszeit liess Gilgen Vorarbeiten zu einer neuen Reform zu, die dann das Ende der weitgehend direkt von der Erziehungsdirektion geführten Universität bedeuten sollte.

Andere Erneuerungsbestrebungen kamen ohne solche Rückschläge, wenn auch nicht immer rasch ans Ziel. Die Lehrerschaft als Ganzes erwies sich als «eher konservatives Gremium – vielleicht mit Ausnahme der «Aaleggi». Der Französischunterricht an der Primarschule wurde gegen ihre Meinung eingeführt. Der Realisierung der individualisierten und durchlässigeren Volksschul-Oberstufe gingen rund zwanzigjährige Versuche und Abklärungen voraus. Schon 1978 gelang ein grundsätzlicher Um- und Ausbau der Lehrerbildung, deren zweistufiger pädagogischer Teil nun auf der Maturität aufbaute. Anfang der neunziger Jahre brachte ein neuer Lehrplan eine stärkere Orientierung nach Lernzielen statt nur nach Stoffen. Schritt um Schritt wurde das Netz der Mittelschulen in mehreren Regionen des Kantons verdichtet, auch durch das unkonventionelle Liceo artistico.

Er liess sich nicht verbittern

Da und dort vermisste man bei Gilgen explizite bildungspolitische Ziele grundsätzlicher Art. Ob «Visionen» die Entwicklungen erleichtert hätten? Gilgen war jedenfalls skeptisch gegenüber hochtrabenden Philosophien und sah seine eigene Stärke eher in angriffig-witzigen als in programmatischen Reden. Souverän waren seine Voten im Kantonsrat, wenn er allseitige Angriffe parierte. Verlegte er sich zu sehr auf Abwehr? («Wenn einer am Ertrinken ist, lernt er nicht noch einen neuen Schwumm», sagte er über Reformen in Sparzeiten.) Man könnte seine realistische, sachliche und emotional distanzierte Art auch als Chance für Praktiker, die ihren Spielraum produktiv nutzen, betrachten. Beeindruckend bleibt Alfred Gilgen gewiss als beharrlich arbeitender Regierungsmann, der sich auch durch niederträchtige und unappetitliche Angriffe weder beeinflussen noch wirklich verbittern liess («Es ist noch nie einer gegen seinen Willen Regierungsrat geworden»). 300 Franken liess er sich einmal eine Langhaar-Perücke kosten, um darunter seine Charakterglatze zu verstecken und sich unter die Teilnehmer einer Demonstration gegen sich selber zu mischen. Sein Amt hat er aber auf seine Art respektgebietend ernst genommen.

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